Schocktaktik gegen Messerstecher
Die britische Regierung versucht, mit Vorbeugungsmaßnahmen gegen eine Eskalation der Gewalt vorzugehen
In der vergangenen Woche gab es laut Independent an fünf Tagen in London fünf Opfer tödlicher Angriffe mit dem Messer; zwei weitere Opfer wurden in den Midlands und in Merseyside niedergestochen. Am Wochenende wurde in einem Pub in Bolton ein Mann in den Dreißigern mit dem Messer tödlich attackiert; in Bristol wurde ebenfalls ein Mann mit Messerstichen getötet; ein 22-Jähriger befindet sich in einem kritischen Zustand nach einem solchen Angriff auf einem Konzert, ein 21-Jähriger musste sich in Redcar, Cleveland, an der englischen Ostküste, operieren lassen - nach einer Messerstecherei: "Knife-Crime" sorgt derzeit in Großbritannien für bittere Schlagzeilen. Die Regierung Brown versucht nun, die aufgebrachte, beunruhigte und schockierte Öffentlichkeit mit einer "Schock-Taktik" gegen die Messerstecher und einem umfassenderen Vorbeugungsprogramm zu überzeugen.
Ohnmacht, Wut und Angst angesichts solcher brutaler Vorkommnisse erzeugen ein schwieriges Klima, in dem Forderungen nach härteren Strafen zwangsläufig laut werden und geschickt beantwortet werden wollen. Das musste Innenministerin Jaqui Smith am Sonntag feststellen. Sie hatte den Vorschlag gemacht, Personen, die von der Polizei mit einem Messer aufgegriffen werden, mit Opfern von Messerstechereien in Krankenhäusern zu konfrontieren - und über solche Schocks eine Verhaltensänderung einzuleiten. Das sei ihrer Meinung nach härter als die einfache Lösung, die so laute, dass jeder ins Gefängnis komme.Selbst als die Innenministerin nochmals präzisierte, dass damit nicht jene, die ihr Messer schon benutzt und andere damit bereits bedroht oder angegriffen hätten, vom Gefängnis verschont bleiben sollten, sondern dass die Schocktherapie vor allem bei jenen angewandt werden sollte, die bei Kontrollen mit einem Messer erwischt würden, wollten sich die Politiker der Opposition und Vertretern von Opferorganisationen mit solchen "Halbherzigkeiten" nicht zufrieden geben:
Die Reaktionen oppositioneller Politiker waren weniger drastisch, aber genauso deutlich. "Halbgar", "schlecht ausgedacht" und ähnliches ließen der Schatteninnenminister und der innenpolitische Experte der Liberal Democrats als Kommentar verlauten. Der Boulevard, dem ein Guardian-Kommentar neben The Mail und Sun in diesem Fall auch den Telegraph beigesellt, war eindeutig: "Prison is the only place for knife carriers".
Premierminister Brown versuchte dann gestern die Wogen zu glätten. Er verstehe die Unsicherheit und die "Angst der Mehrheit ausgelöst durch Taten einer Minderheit" und man müsse jedem, insbesondere aber jungen Menschen, klarmachen, dass es völlig unakzeptabel sei, ein Messer bei sich zu tragen.
Den Standpunkt der Regierung zur Frage, wie Personen, die mit einem Messer erwischt werden, bestraft werden sollen, versuchte er, in Abstufungen zu beantworten: Wenn jemand ein Messer bei sich habe und es benutze, sollte es seiner Meinung nach keinen Zweifel geben, dass er ins Gefängnis muss. Bei bloßem Besitz wollte Brown aber den Hauch einer Unschuldsvermutung noch geltend machen ("Es gibt mehrere Arten von Messern") und andere Möglichkeiten der Bestrafung wie etwa Sozialstrafen – die Rede ist von z.B. von 300 unbezahlten Sozialstunden. Doch auch Brown, der in Umfragen nicht allzu gut aussieht, will Härte zeigen: Mit einer bloßen Geldstrafe, wie es der Sentencing Guidelines Council vorgeschlagen hatte, will Brown die Messerträger nicht davon kommen lassen.
Möglichst frühzeitig bei 20.000 Familien eingreifen
Am heutigen Dienstag will die Regierung im Detail ein umfassenderes Konzept vorstellen, mit dem sie gegen die "Spirale der Gewalttaten mit Messer" vorgehen will. Einige Eckpunkte des 100 Millionen Pfund teuren "Youth Crime Action Plan" wurden bereits bekannt. So etwa, dass man sich mit erheblich gesteigertem Polizeieinsatz auf acht Brennpunkt-Zonen konzentriert und dass man die Prävention auch dahin gehend verstärken will, indem man "frühzeitg" bei 20.000 Familien eingreifen will, von denen laut Brown bekannt ist, "dass die Mutter oder der Vater die Kontrolle über ihre Kinder verloren haben, und deren ganzes Leben in Schwierigkeiten geraten ist." Genannt wird aber noch eine andere Zahl, nämlich 100.000 Familien, "die Unterstützung bräuchten", weil die Kinder in Gefahr seien, notorische Straftäter zu werden.
Man kann davon ausgehen, dass die angestrebten Präventivmaßnahmen der Regierung kein leichtes Spiel bei der opposition und bei den Kritikern haben werden, umso mehr als die Labour-Regierung seit Jahren auf Prävention setzt, mit zum Teil spektakulären Programmpunkten (siehe "Wir schlagen zurück") - und keinen allzu großen Erfolg, wenn man z.B. die gegenwärtige Gewaltwelle als Maßstab nehmen will.
Gangs viel weniger organisiert, als man glaubtGestern hatte dann der Guardian noch eine noch unveröffentlichte wissenschaftliche Untersuchung in die Diskussion gebracht, die "nahelegt, dass die offizielle Taktik von fundamental falschen Annahmen zeugt, oft fehlschlägt und manchmal sogar die Gangs stärkt, die sie im Visier hat."
Das besondere Interesse der Wissenschaftler lag bei der Erforschung von Gangs. Nach Informationen des Guardian haben die Sozialwissenschaftler der Manchester University zwei Jahre lang intensive Feldforschung bei sechs Gangs in einer ungenannten englischen Stadt betrieben und in dem Zusammenhang mit mehr als 100 Gangmitgliedern, "Verbündeten" und "Informanten", zu denen sie "Vertrauen gewonnen hatten", Interviews geführt. Ergebnis: Allgemein seien Gangs viel weniger organisiert, der Zusammenhalt der Gruppe sei weniger fest und die kriminelle Aktivität geringer und die Hierarchien weniger fix, als man dies glaube. Sie seien nicht "auf Drogenhandel spezialisiert" und ihre Gewalt von Revierkämpfen verursacht. Ebensowenig stimme die Annahme, dass die meisten Straßengangs schwarz seien.
Von den untersuchten sechs Gangs habe sich keine einzige dem Drogenhandel zugewendet, die Mitglieder würden ihren Lebensunterhalt "durch Gelegenheitsjobs, Zuwendungen von Freunden und Familien und kleinkriminellen Vergehen – 'gelegentlichem Verkauf von Haschisch und Straßenraub' – bestreiten". Die Ursachen für Gewaltaten lagen weniger Streitigkeiten über Gebietsansprüche zugrunde als vielmehr "Streitigkeiten über Freunde, Familie und romantische Angelegenheiten". Sie fanden eher innerhalb der Gang statt als mit Angehörigen anderer Gruppierungen. Die ethnische Zusammensetzung würde vor allem die Herkunft aus einem bestimmten Viertels widerspiegeln – "im Gegensatz zu Annahmen der Medien und der Polizei".
Die Sozialwissenschaftler schließen aus ihren Beobachtungen: Da die Polizei meist aufgrund fundamental falscher Annahmen operiere, würde man oft die Falschen, paradoxerweise oft selbst Opfer von Verbrechen, ins Visier nehmen und verfolgen – die seien zwar Mitglieder von Gangs, aber zugleich Individuen, die nichts Ungesetzliches getan hätten. Damit würde die Polizei oftmals die Gangmitglieder, bzw. deren Freunde oder Familienangehörige, "entfremden" und dadurch eine mögliche Zusammenarbeit vereiteln. Dies treffe im Übrigen auch auf Schulen, Behörden und Gefängnisse zu, die "völlig falsch vorbereitet" seien, um angemessen mit Problemen umzugehen, die mit Gangs zu tun haben.(Quelle:Heise.de)
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