Dienstag, Dezember 09, 2008

Die Uniform als schärfste Waffe

Noch immer wird in türkischen Gefängnissen massiv gefoltert und misshandelt - und noch immer mangelt es an echtem Unrechtsbewusstsein. Menschenrechtler sprechen von "exzessiver" Gewaltanwendung durch Polizeibeamte, die Zahl brutaler Vorfälle steigt. Doch die meisten Prozesse enden mit Freispruch.

Istanbul - Manchmal kostet es nur 85 Lira, Menschen zu terrorisieren. Für 85 Lira, umgerechnet etwa 42 Euro, bekommt man in Istanbul eine komplette Polizeiuniform mit Mütze, Weste und Schlagstock. Die fünf jungen Männer, die sich am 24. August als Polizisten verkleideten und in ein Istanbuler Amüsierlokal stürmten, hatten sogar nur in eine Weste investiert.

Aber weil in der Türkei die Angst vor Männern mit Autorität im Allgemeinen tief sitzt, und weil hier oft schon die Frage nach einem Polizeiausweis einen Schlag ins Gesicht nach sich ziehen kann, leistete an jenem Abend niemand Widerstand. Niemand griff ein, als die Uniformierten wahllos einen Bediensteten verprügelten und eine Kellnerin an den Haaren aus dem Lokal herauszerrten, entführten und später mehrfach vergewaltigten. Sie hätten ja ganz fachmännisch Personalien von den Gästen aufgenommen, sagte ein Augenzeuge später über die Täter.

Das Verbrechen gelangte erst Anfang dieser Woche an die Öffentlichkeit - und schockiert das Land. Doch damit nicht genug.

Kaum hatten sie im Fernsehen von dem Fall gehört, fühlten sich Mittwochnacht im fernen Provinzstädtchen Kirikhan fünf weitere Männer inspiriert, es den Istanbulern gleichzutun. Auch sie gaben sich als Polizisten aus und verschafften sich Einlass in eine Privatwohnung. Ihr Opfer, ein 19-jähriges Mädchen, hatte allerdings Glück: Nachbarn mit Zivilcourage hatten rechtzeitig die echte Polizei gerufen.

"Niemand widerspricht einem Mann in Uniform"

"Für eine Straftat ist die beste Verkleidung eben immer noch eine Polizeiuniform", zitiert der türkische Nachrichtendienst Bianet einen Istanbuler Angestellten. Und ein Kneipenbesitzer erzählt, er habe vergleichbare Situationen schon Dutzende Male erlebt: "Die Polizei kann problemlos Hausdurchsuchungen durchführen. Wir sind das gewohnt. Niemand widerspricht hier einem Mann in Uniform."

Dass die Angst vor den Sicherheitskräften in der Türkei so weit verbreitet ist, hat seine Gründe. Seit Jahren sprechen Menschenrechtsaktivisten von exzessiver Gewaltanwendung durch Polizeibeamte. Noch immer wird in türkischen Gefängnissen massiv gefoltert und misshandelt. Und noch immer mangelt es an einem echten Unrechtsbewusstsein. Rund 5000 Anzeigen wegen Misshandlung gingen seit 2006 beim Justizministerium ein. Doch die meisten Prozesse enden mit Freispruch.

Symptomatisch ist der Fall von Engin Ceber, einem jungen Mann, dessen einziges Vergehen es war, eine linke Zeitschrift auf der Straße verteilt zu haben. In der Haft musste er sich ausziehen, Wärter tunkten seinen Kopf ins Wasser, bis er fast ertrank, dann verprügelten sie ihn mit Holzknüppeln. Anfang Oktober starb der 29-Jährige im Krankenhaus - an den Folgen seiner Gehirnblutungen.

Immerhin: Der Justizminister entschuldigte sich anschließend bei den Angehörigen von Ceber - ein Novum in der Geschichte der Türkei.

Desaströses Zeugnis für den EU-Beitrittskandidaten

Doch von einer Politik der "Null Toleranz" gegenüber Folter, wie sie der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan einst angekündigt hatte, scheint das Land Welten entfernt.

Es gebe längst wieder einen "ernsthaften Anstieg" missbräuchlicher Polizeigewalt, darunter Fälle schwerer Folter und solche mit tödlichem Ausgang, sagte am Freitag Kenneth Roth, Direktor der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Bei ihren Einsätzen handelten die Beamten seit einer entsprechenden Gesetzesänderung von 2007 mit "übergroßer Ermessensfreiheit". Und zur Rechenschaft gezogen werde praktisch niemand. Im Gegenteil: Bei Beschwerden über ungesetzliche Gewaltanwendung sei es vielmehr üblich, dass die Beschwerdeführer selber angeklagt würden - wegen "Widerstand gegen die Staatsgewalt".

In einem 80-seitigen Bericht hat Human Rights Watch etliche Beispiele von nicht nachgegangenen Foltervorwürfen und verschwundenen Beweismitteln zusammengetragen und so ein desaströses Zeugnis für den EU-Beitrittskandidaten erstellt. Es herrsche in der Türkei gegenwärtig eine "Kultur der Straflosigkeit", der Verharmlosung und Verleugnung, fasste Roth zusammen.

Was das bedeutet, konnte der Menschenrechtsaktivist in dieser Woche live in Ankara erleben. Da kanzelte ihn der stellvertretende Ministerpräsident Cemil Cicek mit den Worten ab, Europa habe ja selber "Verfassungsprobleme". Und dann referierte der Stellvertreter Erdogans noch über die Psychologie des Terrorismus. Man müsse die zu Gewalt neigenden Polizisten doch verstehen. Die setzten sich ja täglich mit der Bedrohung durch die PKK auseinander. "Wenn der Ministerpräsident genauso denkt - und davon gehe ich aus - hat die Türkei ein ernsthaftes Problem", sagte Roth.

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