Mittwoch, April 09, 2008

Märtyrer wider Willen

Ein 19-jähriges Opfer einer Bluttat wird zum "Kameraden" verklärt. Neonazis aus ganz Deutschland gedenken "ihres" Opfers und wollen den Hass auf Migranten auf die Straße tragen


Ausgerechnet Stolberg, unter Szenekennern die "braune Hochburg"überfielen rund fünfzehn mit Knüppeln bewaffnete Vermummte ebenso viele Antifaschisten nach einem Konzert und jagten sie als "Zecken" durch die Straßen. Und nun ersticht ein Migrant in Stolberg einen jungen Mann, der zuvor ein NPD-Mitglied von einer rechten Versammlung abgeholt hatte. Das Opfer, es wurde nur 19 Jahre alt, wird seitdem als "Kamerad" verklärt, dessen Tod "nicht umsonst" gewesen sei. Doch Freunde und die Eltern des Toten verbieten sich diese "Lügen" im Kreis Aachen. Zwei Vertreter der NPD und ein Hospitant der DVU bilden im Rat die einzige NPD-Fraktion in ganz Nordrhein-Westfalen. Im Herbst 2007

Laut Polizei wurde der 19-Jährige am 4. April 2008 gegen 23 Uhr niedergestochen und erlag wenig später im Krankenhaus seinen Verletzungen. Die Tat in der Stolberger Innenstadt sei als Folge von Streitigkeiten zwischen zwei Personengruppen anzusehen, so die Polizei. Laut Oberstaatsanwalt Robert Deller seien der Tat Streitigkeiten zwischen den Gruppierungen junger Leute in der Stärke von fünf bis sechs Personen vorausgegangen. War der Grund für die Auseinandersetzung zuerst noch unbekannt, drängt sich den Ermittlern unterdessen der Verdacht auf, dass Vertreter aus beiden Gruppen schon zuvor Streitigkeiten wegen der "Anmache" eines Mädchens hatten und die Lage bei dem Aufeinandertreffen dann eskalierte.
Sicher sei bislang, sagte Deller auf Anfrage von Telepolis, dass der Grund für die Tat "nicht im politischen, rassistischen oder einem ähnlich gelagerten Bereich liegt". Man vermute derzeit, dass die Bluttat Folge des schon länger schwelenden Streits zwischen dem unterdessen gestellten 18-jährigen Tatverdächtigen mit Migrationshintergrund und seinem Opfer gewesen sei. Auszuschließen sei nach bisherigem Kenntnisstand, dass die Gruppe um den Täter gezielt das 17-jährige NPD-Mitglied angegriffen habe, das sich in der Gruppe des Opfers befand, sagte Deller. Und selbst Willibert Kunkel, Stolberger Ratsmann und Vorsitzender des NPD-Kreisverbands Aachen, sagte, das Opfer habe mit der rechten Szene nichts zu tun gehabt. Er habe an dem Abend nur seinen "Kumpel" von der NPD-Versammlung abgeholt. Rund 700 Meter entfernt hätten dann "fünf Ausländer" angegriffen. Die Tat sei verwerflich, aber es handele sich wohl um "einfaches Rowdytum" und "keine politisch motivierte Tat."

Neonazis aus der Region Aachen und dem Rheinland sowie der Vorsitzende des NPD-Kreisverbands Düren, Ingo Haller, sahen das anfangs noch anders. Haller mobilisierte noch in der Nacht mittels Rundmails eine Mahnwache, weil "ein Kamerad von 4 Türken getötet worden" sei. Unter der Überschrift "Nationalist nach NPD Stammtisch getötet" mobilisierten zugleich Neonazis aus der Rhein-Ruhr-Schiene zur Teilnahme. Rund 170 Neonazis marschiertennannte das Opfer in einer Rede einen "jungen Kameraden, der hier gestorben ist", und zwar nur aus dem Grund, weil er Deutscher gewesen sei. Ein Vertreter der "Autonomen Nationalisten" ergänzte nach Skoda, "einer von uns, von unserem Volk" sei gestorben. daher am Nachmittag des 5. April in Stolberg auf. Für sie war ihr "Kamerad" längst für "die Bewegung" gestorben. Sven Skoda, Neonazikader aus Düsseldorf,

Auf einer NPD-Demonstration in Weimar rief sogar NPD-Parteichef Udo Voigt am Samstag zu einer Gedenkminute "für unseren Kameraden" auf, den Türken bei einem "Mordanschlag [...] abgestochen" hätten. Voigt nutze die Gunst der Stunde, anlässlich des Falls den "Kameraden" in Weimar zuzurufen, Deutschland sei "unser Land" und "kriminelle Ausländer [würden] raus aus Deutschland gehören". Der Landesgeschäftsführer der NPD-NRW, Claus Cremer, nutze den Mord dazu, sie dem politischen Gegner anzulasten: "Die Hetze, welche die etablierten Versagerparteien und die regionalen [antifaschistischen] Bündnisse [...] gegen die NPD verbreitet, trägt mörderische Früchte."

Längst kochten auch in unzähligen Szeneforen die Aggressionen hoch, beschworen Neonazis Rachephantasien von vielen ermordeten Migranten und Antifaschisten in Deutschland. Längst wurde das Opfer als "Märtyrer" verklärt, wird darüber diskutiert, nun alljährlich in Stolberg einen Gedenkmarsch abzuhalten, zu dem bundes- und europaweit mobilisiert werden soll. Während die NPD in Stolberg indes sagte, der 19-Jährige sei weder Mitglied gewesen noch Sympathisant, verbreiten andere NPD-Verbände weiter, das Opfer sei NPD-Sympathisant oder zumindest –Interessent gewesen. Für die Vertreter der "Freien Kameradschaften" und "Autonomen Nationalisten" (AN) ist das Opfer immer noch einer der ihren.

Unterdessen haben die "Freien Kräfte" rund um den Hamburger Multifunktionär Christian Worch zu einem Aufmarsch unter der Parole Kein Vergeben - Kein Vergessen! aufgerufen. Dieser soll am Sonnabend (12.4.) stattfinden, zu ihm wird bundesweit mobilisiert und immer noch ist die Rede davon, dass es um einen "Kameraden" geht. Die NPD plant ihrerseits einen Gedenkmarsch, Motto: Sicher leben - ohne Multikulti! Wut wird Widerstand. Anmelder des Aufmarsches am 26. April ist zwar Kunkel, jedoch scheint der in der Region Aachen-Düren immer aktiver auftretende Dürener Kreischef, Ingo Haller, maßgeblich an der Organisation beteiligt zu sein. Hatte Haller in ersten Stellungnahmen und Reden noch von dem Opfer als "Kamerad" gesprochen, ruderte er indes unterdessen zurück: Die "Mahnwache" am Tag nach der Bluttat – und offenbar auch der Aufmarsch Ende April – hätten "nichts damit zu tun, ob das Opfer ein Kamerad war oder nicht. Wir wollen darauf aufmerksam machen, dass ein deutscher Jugendlicher hinterhältig von sechs Migranten angegriffen wurde."

Was Stolberg bei diesen Aufmärschen erwartet, und wie Neonazis trauern, konnte man am 5. April schon erleben. Bei ihrer Spontandemo skandierten die Neonazis Parolen wie "Deutschland den Deutschen – Ausländer raus!" Vor Ladengeschäften von Migranten brüllten sie aggressiv: "Wir kriegen euch alle!" Einen "Nationale[n] Sozialismus – Jetzt!" forderten sie. Vor einigen Läden von Migranten entlud sich die Wut dann abermals und die Neonazis riefen mit geballten Fäusten den hinter den Scheiben und Türen stehenden Migranten zu: "Türken haben Namen und Adressen. Kein Vergeben, kein Vergessen!"

"Menschen, nicht Ausländer, Menschen"

Längst mühen sich die Freunde des getöteten 19-Jährigen, den Neonazis das Wasser abzugraben. Unterdessen haben sie eigene Mahnwachen am Tatort abgehalten. Sie verwehren sich dagegen, dass das Opfer ein Rechtsextremist und Neonazi gewesen sei. Offenbar haben dies auch die Eltern des Opfers getan, denn sie hinterließen am Tatort ein Plakat mit Bildern von ihrem Sohn und Freunden, darunter auch Migranten: "Menschen, nicht Ausländer, Menschen" ist auf dem Plakat zu lesen. Gefragt wird ferner: "Sieht so ein Rassist aus?" Und die Bitte: "Hört auf, über unseren Sohn zu lügen!"

Doch längst ist der Mythos in der braunen Welt verbreitet, dass da ein "Kamerad" hinterhältig von Migranten ermordet wurde. Das 17-jährige NPD-Mitglied, welches sich zudem im Umfeld der ANs und der rechtextremen Fußball-Fans von Alemannia Aachen bewegt, verfügte nach "Telepolis"-Recherchen über zahlreiche Freunde außerhalb der Neonazi-Szene. Lange hatte sich der junge Mann nach außen hin nicht als Neonazi zu erkennen gegeben. Sogar auf seiner Schule, an der antifaschistische und interkulturelle Projekte stattfinden, blieb er als Schülersprecher lange als Neonazi unerkannt. Anzunehmen dürfte sein, dass der Jugendliche das Opfer als "Kumpel" (Kunkel), jedoch nicht als "Kamerad" ansah – auch wenn die Polizei mitteilte, dass das "Tatopfer […] nach bisherigem polizeilichem Kenntnisstand eine Affinität zur rechten Szene hatte."

Längst scheint auch verschiedenen Neonazis zu dämmern, dass sie einen jungen Mann zum "Märtyrer der Bewegung" verklären, obschon das Opfer wohl kaum einer der ihren war. Das Neonazi-Portal "Altermedia" bemühte in einem der zahlreichen Beiträge sogar ein Profil im StudiVZ, in dem das Opfer angegeben hatte, dass es politisch "rechts" stehe. Indes verschweigt das rechte Nachrichten- und Diskussionsportal, dass das Opfer in jenem Profil auch viele Migranten in seiner Freundesliste verlinkt hatte – aber keinen einzigen der Neonazis aus der Region. In Internet-Foren wird daher durch Neonazis längst auch das Profil des Opfers im SchuelerCC bemüht, in dem dieser angab, ein Rassist zu sein. Doch das Opfer gab hier ebenso an, "Gewallt und hinterlistege Leute!" nicht zu mögen. Und er sei "ein Rassist, Drogendealer und sehr Krimineller Typ, demm man am besten aus dem Weg geht, wenn man damit nicht klar kommt!" Ironie?


Auch im SchuelerCC könnten Neonazis erkennen, dass unter den Freunden des 19-Jährigen viele Migranten sind – aber wieder keiner der regionalen Neonazis. Und die Freunde des Opfers teilen dort etwa mit, es sei "echt krank, dass jez die rechtsextremisten diesen mord für ihre propaganda ausnutzen um so neue aufruhr zu erzeugen." Eine Freundin schreibt: "viele leute labern nur müll [...] die haben einfach keine ahnung was sie sagen". Ein Freund mit Migrantionshintergrund schreibt: "und davon mal begesehen das [...] nicht rechts war sondern jede menge ausländische freunde hatte."

Doch große Teile der Neonazi-Szene interessiert das nicht. Sie stellen Sonderseiten zum Tod ihres "Kameraden" ins Internet, basteln virtuelle Todesanzeigen mit Lebens- und Todesrunen statt Sternchen und Kreuzen zur Kennzeichnung des Geburts- und Todesdatums. Zahlreiche Spontanaktionen – "Mahnwachen", Aufmärsche und Flugblattaktionen – gab es in deutschen Städten schon. Den von ihnen selbst aufgebauten "Märtyrer" geben sie vorerst offenbar nicht mehr her.

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