Mittwoch, Juni 04, 2008

Kalte Platte bei Kerzenschein

Wachsende Energiearmut in Deutschland


Wie sehr wir im Alltag auf Strom angewiesen sind, merken wir erst, wenn er fehlt. Das Licht ist aus, Fernsehen, Radio, PC, Waschmaschine und Telefon funktionieren nicht, oft bleiben auch das Wasser kalt und der Herd aus. Wer mit Strom heizt oder dessen Fernwärmeheizung elektrisch gesteuert wird, sitzt nicht nur im Dunklen, sondern auch im Kalten. Der Bochumer Steffen Fleischmann* hat unfreiwillig erlebt, was es heißt, ohne Strom auskommen zu müssen. Wegen einer unbeglichenen Forderung aus der Jahresendabrechnung sperrten die Stadtwerke Bochum ihm den Strom. Auch Tobias Müller* aus Bottrop lebt seit März 2007 ohne Strom, weil der Energieversorger ELE ihn wegen eines Rückstands vom Netz getrennt hat.

Damit sind die beiden nicht allein. In Deutschland sperren Strom- und Gasversorger jährlich über zwei Prozent der Anschlüsse. Das ergab eine Befragung von 23 Stadtwerke-Führungskräften durch die Hanseatische Inkasso Treuhand (HIT) und die Unternehmensberatung Nordsan. Hochgerechnet sind also rund 840.000 Haushalte pro Jahr betroffen. Allein in Nordrhein-Westfalen haben die Energieversorger 2007 geschätzte 130.000 Mal den Strom abgeklemmt.
Laut [extern] Statistischem Bundesamt liegen die Verbraucherpreise für Strom im Januar 2008 um knapp 46 Prozent höher als vor acht Jahren. Der starke Anstieg trifft vor allem Haushalte mit geringen Einkommen. Bei Haushalten, die Arbeitslosengeld II (ALG II) oder Sozialhilfe beziehen, trägt das Jobcenter beziehungsweise das Sozialamt die Wohn- und Heizkosten, soweit sie angemessen sind. Was als "angemessen" gilt, wird lokal verschieden ausgelegt. Oft gewährt die Behörde lediglich Pauschalen: meist ein oder zwei Euro Heizkosten pro Quadratmeter Wohnfläche. Die Stromkosten für Haushaltsenergie sind selber zu tragen und müssen aus dem Regelsatz von derzeit 347 Euro (ab 1.07.2008 351 Euro) bewältigt werden. Darin sind gerade mal 25 Euro für Haushaltsenergie vorgesehen. Immer häufiger droht GeringverdienerInnen und ALG II-EmpfängerInnen die Gefahr einer Energiesperre.
Bei Tobias Müller waren es "nur" 178 Euro, die er nachzahlen sollte, bei Steffen Fleischmann 250 Euro. Die Stromsperre droht bei ausstehenden Beträgen ab 100 Euro. Jobcenter und Sozialämter können Stromschulden auf Antrag als Darlehen übernehmen, sie tun es aber in der Regel nicht. "Man schämt sich, schließlich hat man sich selbst in die Situation gebracht", weiß der arbeitslose Maurer und Hartz IV-Empfänger Steffen Fleischmann. "Mir war das peinlich", berichtet auch Tobias Müller. Nach der zweiten Mahnung stand der Stromsperrer vor der Tür – kurz vor dem Wochenende. Ein paar Tage ohne Strom ist die effektivste Weise, säumige Kunden zum Zahlen zu bewegen – sofern sie das Geld auftreiben können.
Aus Scham und Geldnot richten sich viele in einem Leben ohne Strom ein. "Kurzfristig hilft man sich mit Kerzen. In Wintermonaten geht man halt früh ins Bett", erzählt Steffen Fleischmann. "Die Lebensmittel in meinem Kühlschrank wurden schlecht.0. Andreas Pfeiffer hat bei seiner Freundin gekocht und geduscht, Strom für die Waschmaschine durfte er bei den Nachbarn abzweigen. Manche Stromlose ziehen heimlich Strom von der Hausgemeinschaft oder behelfen sich mit gefährlichen Konstruktionen. Immer wieder kommt es zu Unglücken, weil die Menschen sich in ihrer Not mit brennenden Kerzen, Spirituskochern oder Gasstrahlern behelfen.
Neue und damit energieeffiziente Haushaltsgeräte kann sich ein ALG II-Empfänger nicht leisten. Früher gewährte das Sozialamt einmalige Beihilfen für deren Anschaffung. Doch seit Einführung von Hartz IV ist eine monatliche Pauschale im Regelsatz von 37,50 Euro dafür vorgesehen. "Sparen ist im Hartz IV-Bezug unmöglich", erklärt Wolfgang Kutta von der Evangelischen Sozialberatung Bottrop ([extern] ESB). Der Sozialarbeiter hält das derzeitige System für gescheitert: "Wie soll man bei einem viel zu niedrig bemessenen Regelsatz auch noch Geld zurücklegen?"

Ein weiteres Problem: Je länger man wartet, desto höher wird die Rechnung beim Stromlieferanten, die Energieschulden wachsen. Beim Hartz IV-Empfänger Tobias Müller wurden aus dem Rückstand von 178 Euro durch Mahngebühren, Zähleraus- und -wiedereinbau schließlich 420 Euro.

Sozialtarife für Geringverdiener?

Damit wird in Deutschland zum Problem, was in anderen Ländern schon länger bekannt ist: Energiearmut. Gemeint ist der mangelnde Zugang zu adäquater, bezahlbarer und umweltfreundlicher Energie. In Großbritannien ist Energiearmut (fuel poverty) seit vielen Jahren Thema. Nach [extern] offizieller Definition gilt als energiearm, wer mehr als zehn Prozent seines Haushaltseinkommens für Energie aufwendet – in Großbritannien sind das über 4,4 Millionen Haushalte. In Deutschland gibt es weder eine solche Definition noch eine Statistik. Auch in den Armuts- und Reichtumsberichten der Bundesregierung taucht das Problem nicht auf.
Mit der Privatisierung kommunaler Energieversorger und der Liberalisierung des Strommarktes in Deutschland hat sich nicht nur ein Oligopol von vier Großkonzernen herausgebildet. Die Stromversorgung ist auch dem politisch-demokratischen Einfluss von Kommunalparlamenten entzogen worden. Damit schwindet die Möglichkeit, soziale Standards durchzusetzen.
Seit Anfang 2008 wird in Deutschland über die Einführung von Sozialtarifen für Einkommensschwache [extern] diskutiert. Politik und Energiewirtschaft schieben die Verantwortung dafür untereinander hin und her. "Die Sicherung der Energieversorgung bei Zahlungsunfähigkeit eines Haushalts ist nach Auffassung der Landesregierung nicht Aufgabe des jeweiligen Grundversorgers, sondern ist durch staatliche Transferleistungen zu regeln", so NRW-Wirtschaftsministerin Christa Thoben (CDU). Im [extern] Bericht der Enquetekommission des NRW-Landtages zu den Auswirkungen längerfristig stark steigender Energiepreise empfehlen die Regierungsparteien CDU und FDP in ihrem Mehrheitsvotum, Einkommensschwachen sollten die Heizung im Winter auslassen: "Kurzfristig können Mieter … mit einem Absenken der Raumtemperatur reagieren, mit Verzicht auf die volle Beheizung einzelner Räume etc."
Während einige regionale Energieversorger wie Rhein-Energie in Köln, Stadtwerke Bonn oder Eon Bayern Sozialtarife anbieten, hat NRWs größter Energiekonzern ELE die Forderung nach einem Sozialtarif für Geringverdiener abgelehnt. Sozialberatungsstellen und Verbraucherzentralen schlagen Alarm, dass sich das Problem Energiearmut noch weiter verschärfen wird. Zurzeit prüfen Stromlieferanten vorab nicht die Zahlungsfähigkeit ihrer Neukunden, etwa durch eine SCHUFA-Auskunft. Aber das ist nur eine Frage der Zeit. Schon jetzt sind Energierückstände neben Mietschulden die Hauptursachen, warum Menschen ihre Wohnung verlieren.
In Großbritannien sind in großem Maße Münzzähler für Strom eingebaut worden, billiger ist die Energie dadurch für Arme nicht geworden. Im Gegenteil: Sie zahlen oft sogar [extern] mehr als Normalverbraucher, weil sie nicht auf billigere Tarifmodelle umsteigen können. Deswegen wird auch dort seit einiger Zeit über flächendeckende Sozialtarife [extern] diskutiert. Denn explodierende Energiepreise haben die Zahl an "Energiearmen" seit 2003 mehr als verdoppelt.
In Belgien dagegen können Einkommensschwache eine Strommenge von 500 Kilowattstunden jährlich kostenlos beanspruchen. Auch eine bestimmte Gasmenge gibt es umsonst. Ein ähnliches Modell schlägt der Bund der Energieverbraucher für Deutschland vor: Jeder Haushalt soll pro Jahr 1.000 Kilowattstunden Strom kostenlos beziehen können. Bei Stromschulden soll der Anschluss nicht gesperrt, sondern nur gedrosselt werden dürfen. Kann ein Kunde die Rechnung nicht begleichen, darf der Versorger die Stromzufuhr auf eine Leistung von 125 Watt oder 0,6 Ampere begrenzen. Damit [extern] kann man noch telefonieren, eine Glühbirne brennen lassen oder die Heizung betreiben.
Steffen Fleischmann bekam nach fünf Tagen wieder Strom, dafür hat er sich Geld bei Verwandten geborgt. Bei Tobias Müller ging das Licht erst nach 15 Monaten wieder an, solange hat er gebraucht, um seinen Rückstand abzubezahlen.

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