Österreichs Inzest-Tragödie - Was wird das Ausland dazu sagen?
04. Mai 2008 Wenn etwas Großes passiert, ist der erste Reflex des offiziellen Österreichs, sich zu fragen: „Was wird das Ausland dazu sagen?“ Auch diesmal. Diese vorherrschende Sorge um das Image - wie „wir“ jetzt, mit dem Fall in Amstetten, wieder einmal dastehen vor den Nachbarn und in der Welt - bringt stets auch einen schrillen Populismus bei Politikern hervor. „Wir lassen nicht zu, dass ganz Österreich, dass unsere gesamte Bevölkerung von einem kriminellen, grausamen Einzeltäter in Geiselhaft genommen wird. Wir werden das Ansehen unseres Landes verteidigen, liebe Freunde!“, schmetterte Bundeskanzler Alfred Gusenbauer bei der Mai-Kundgebung vor hunderttausend Wiener Genossen ins Mikrofon. Und die Regierung kündigte eine Imagekampagne an.
Der Feind sitzt draußen. Der Sündenbock sind die bösen Medien allgemein - und jetzt speziell die ausländischen. Das seit der Affäre Waldheim gefürchtete Österreich-Bashing, zuletzt über das Land gekommen im Jahr 2000 bei der Bildung der Mitte-rechts-Regierung mit den Sanktionen der EU-Länder, wird auch jetzt wieder aufgebracht kommentiert. „Das Land der Verliese“ - muss sich Austria das gefallen lassen? Oder ein literarisch inspirierter Brite fragte auf einer Pressekonferenz: „Was ist denn faul im Lande Österreich?“
„Zwei solche Fälle: Kann das Zufall sein?“
Und dass neben all den Zerrbildern ein belgisches Blatt, auf Natascha Kampusch anspielend, die Frage „Zwei solche Fälle: Kann das Zufall sein?“ stellte, brachte das Fass auf den Leserbriefseiten und elektronischen Stammtischen der Zeitungen zum Überlaufen. Ausgerechnet! Belgien, das „Kinderschänderland“, hallte es zurück. Und was sei mit der Sekte in Amerika? Mit dem Kinderheimkeller auf Jersey? Mit der Frau in Frankreich, sechs Kinder vom Adoptivvater? Das gehört zum zweiten, tief eingeübten Reflex: das Aufrechnen, das Relativieren, notfalls das Zurückhauen. Kehrt vor eurer eigenen Tür! Was dem Ausland prompt weiteren Stoff liefert über die bockige, selektive Wahrnehmung der Österreicher. Aber im nächsten Atemzug beschreiben die Medien in Wien doch, ob und wie Belgien es geschafft hat, den Dutroux-Makel loszuwerden. Und Meinungsforscher beruhigen. Auch Jack the Ripper habe dem Ruf Londons nicht geschadet. In fünf Wochen sind Fußball-Europameisterschaften.
Freilich, noch bevor Kommentatoren von Italien bis Skandinavien diesmal die anderen Klischeebilder ausmalten, vom „desolaten Bergland mit kaum sozialer Kontrolle“, von Neurosen und Wahnsinn, vom Vaterland Sigmund Freuds, der hier nicht von ungefähr die Abgründe der menschlichen Seele erforschte, von der imperialen Untertanenmonarchie und nationalsozialistischen Vergangenheit, bevor dieser ganze Österreich-Topf wieder geöffnet wurde - hatte sich die Strategie der Polizei, Behörden und Politik schon eilig danach ausgerichtet, was das Ausland dazu sagen wird. „Es gibt keinen Fall Amstetten“, beschwor der Kanzler, „es gibt nur einen Einzelfall.“ Ein Einzeltäter lässt sich leichter bearbeiten als ein Milieu, in dem eine stumme und brave Gesellschaft einem autoritären, vorbestraften Patriarchen 24 Jahre lang keine Fragen zu stellen wagte. Nein, auch die Ehefrau habe nichts gewusst. Auch ihr bekundete die Regierung rasch ihr Mitleid.
Für die Medienmeute werden Informationshäppchen aufgespart
Schon am zweiten Tag wurde der Fall für geklärt erklärt. Alle Fragen bleiben offen, und der Vorhang wird geschlossen. Sogar eine regionale Zeitung kritisierte: „Der Alles-in-Ordnung-Reflex der Behörden ist inakzeptabel.“ Es dauerte dann Tage, bis sich der Polizeichef zu einer schlüssigen Aufklärung durchrang, wie die Verhaftung zustande kam. Für die Medienmeute, die sich ihre kräftigsten Bissen wie thailändische Urlaubsvideos ohnehin in Eigenregie holt (und zur Erhellung beiträgt!), werden Informationshäppchen aufgespart. Im Namen der natürlich zu schützenden Opfer und ihrer Privatsphäre wird aber auch in diesem Fall nicht nur Opferschutz betrieben, sondern dahinter verschanzen sich auch Behörden und Polizei vor unangenehmen Fragen.
Der Landeshauptmann des tüchtig-straff geführten Bundeslandes Niederösterreich beeilte sich sehr, den Opfern der Bunkertragödie einen passenden Anwalt beizustellen, der bisher als ein exzellenter Wirtschaftsfachmann gilt. Dessen erste Botschaft lautete, dass es „kein Anzeichen für ein Behördenversagen“ gebe. Alles im Griff zu haben, dafür sind die Opfer eine Schlüsselstelle. Nach dem Protest der Justizministerin und des Weißen Rings wird der Wirtschaftsanwalt nun mit einer richtigen Opferanwältin zusammenarbeiten. Wieder ein österreichischer Kompromiss.
„Es ist sicher nichts abgründig Österreichisches an diesem Fall“
Die Frage, ob dieses Kellerdrama (der vierte Fall nach Kampusch und anderen eingesperrten Kindern) landestypisch sei, beschäftigt freilich auch das Inland. Der Bundespräsident, Heinz Fischer: „Es ist sicher nichts abgründig Österreichisches an diesem Fall. Das Monströse, zu dem der Mensch fähig ist, offenbart sich überall.“ Vereinzelte Kommentatoren antworten mit „Jein“. Derartige Verbrechen gebe es überall - aber vielleicht begünstige die heimische Mentalität ja doch das jahrelange Stillschweigen gerade oft familiärer Verbrechen wie Kindesmissbrauch. Und schon sind wir mittendrin im Analyse-Strudelteig des gemütlichen Seins und Scheins.
„Kann es (das Abgründige) sich hier entfalten, weil das Böse mit einem dumpfen, habituell feigen Wegschau-Volk rechnen kann?“, provozierte Chefredakteur Hubert Patterer seine Leser und führt an, dass im Fall Josef F. patriarchalische Befehlsgewalt innerhalb der Norm gelegen habe, die Arglosigkeit der Behörden und der Umwelt verstörend sei, der Mangel an Zivilcourage nichts spezifisch Österreichisches, aber eben auch in Österreich ein gängiges Muster. Die zwanghafte Neigung zur Harmonie, zum Ruhe-haben-Wollen, zum Verdrängen und Vermeiden von Konflikten, die von der kleinen Nachbarschaft bis zur Politik reicht, wird einmal mehr besprochen. Und dass nicht nur Bürger vor der Behörde kuschen, sondern umgekehrt auch Behörden vor einem „Herrn Ingenieur“ und Mercedesfahrer (Josef F.). Mehr als die Hälfte der Österreicher sagt, dass Ämter bei „heiklen Dingen zu oft wegsehen“.
Beweise im Fall Kampusch sind vernichtet oder zurückgeben worden
Der Amstettener Fall, auch wieder vom Kommissar Zufall gelöst, fällt in eine Zeit der Polizeiskandale. Nachdem Intrigen, Machtkämpfe und Korruption die Spitzen der Wiener Polizei bis vor das Gericht brachten, werden nun auch Sitten und Gebräuche im Innenministerium durch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss geprüft. Zentral ist die Anschuldigung des früheren Kripo-Chefs Herwig Haidinger, dass es ihm seit dem Jahr 2006 aus politischen Gründen verboten worden sei, Ermittlungsfehler im Fall Natascha Kampusch zu überprüfen.
Kurz nach der Entführung des Mädchens hatte ein Polizeihundeführer auf den weißen Kastenwagen und die sexuellen Vorlieben des Täters aufmerksam gemacht - der Hinweis kam in die Schublade. Acht Jahre später, nachdem Kampusch sich selbst befreit und ihr Kerkermeister sich vor einen Zug geworfen hatte, also alles wieder in Ordnung war, wollten Politik und Polizei - ihre Ruhe haben. Auch Aussagen, dass der Täter in der Sadomaso-Szene verkehrte, Bilder und Videos tauschte, Mitwisser hatte, wurden nicht geklärt. Bilder, Tagebücher und andere Beweispapiere sind unter Verschluss, vernichtet oder zurückgegeben worden.
Ein Journalist der Londoner „Times“ erinnerte sich anlässlich des Falles in Amstetten an ein Gespräch im Büro eines Polizeigenerals. Es gab Kaffee, Kuchen und höflichen Smalltalk. Aber jede Nachfrage zum Ermittlungsstand sei mit dem Hinweis auf den Datenschutz und die Privatsphäre des Opfers beantwortet worden. Und was wolle man denn, der Täter sei doch tot. Und er, der Polizeichef, und Natascha Kampusch seien inzwischen Freunde: „A lovely girl, really.“ (Quelle:FAZ.de)
Der Feind sitzt draußen. Der Sündenbock sind die bösen Medien allgemein - und jetzt speziell die ausländischen. Das seit der Affäre Waldheim gefürchtete Österreich-Bashing, zuletzt über das Land gekommen im Jahr 2000 bei der Bildung der Mitte-rechts-Regierung mit den Sanktionen der EU-Länder, wird auch jetzt wieder aufgebracht kommentiert. „Das Land der Verliese“ - muss sich Austria das gefallen lassen? Oder ein literarisch inspirierter Brite fragte auf einer Pressekonferenz: „Was ist denn faul im Lande Österreich?“
„Zwei solche Fälle: Kann das Zufall sein?“
Und dass neben all den Zerrbildern ein belgisches Blatt, auf Natascha Kampusch anspielend, die Frage „Zwei solche Fälle: Kann das Zufall sein?“ stellte, brachte das Fass auf den Leserbriefseiten und elektronischen Stammtischen der Zeitungen zum Überlaufen. Ausgerechnet! Belgien, das „Kinderschänderland“, hallte es zurück. Und was sei mit der Sekte in Amerika? Mit dem Kinderheimkeller auf Jersey? Mit der Frau in Frankreich, sechs Kinder vom Adoptivvater? Das gehört zum zweiten, tief eingeübten Reflex: das Aufrechnen, das Relativieren, notfalls das Zurückhauen. Kehrt vor eurer eigenen Tür! Was dem Ausland prompt weiteren Stoff liefert über die bockige, selektive Wahrnehmung der Österreicher. Aber im nächsten Atemzug beschreiben die Medien in Wien doch, ob und wie Belgien es geschafft hat, den Dutroux-Makel loszuwerden. Und Meinungsforscher beruhigen. Auch Jack the Ripper habe dem Ruf Londons nicht geschadet. In fünf Wochen sind Fußball-Europameisterschaften.
Freilich, noch bevor Kommentatoren von Italien bis Skandinavien diesmal die anderen Klischeebilder ausmalten, vom „desolaten Bergland mit kaum sozialer Kontrolle“, von Neurosen und Wahnsinn, vom Vaterland Sigmund Freuds, der hier nicht von ungefähr die Abgründe der menschlichen Seele erforschte, von der imperialen Untertanenmonarchie und nationalsozialistischen Vergangenheit, bevor dieser ganze Österreich-Topf wieder geöffnet wurde - hatte sich die Strategie der Polizei, Behörden und Politik schon eilig danach ausgerichtet, was das Ausland dazu sagen wird. „Es gibt keinen Fall Amstetten“, beschwor der Kanzler, „es gibt nur einen Einzelfall.“ Ein Einzeltäter lässt sich leichter bearbeiten als ein Milieu, in dem eine stumme und brave Gesellschaft einem autoritären, vorbestraften Patriarchen 24 Jahre lang keine Fragen zu stellen wagte. Nein, auch die Ehefrau habe nichts gewusst. Auch ihr bekundete die Regierung rasch ihr Mitleid.
Für die Medienmeute werden Informationshäppchen aufgespart
Schon am zweiten Tag wurde der Fall für geklärt erklärt. Alle Fragen bleiben offen, und der Vorhang wird geschlossen. Sogar eine regionale Zeitung kritisierte: „Der Alles-in-Ordnung-Reflex der Behörden ist inakzeptabel.“ Es dauerte dann Tage, bis sich der Polizeichef zu einer schlüssigen Aufklärung durchrang, wie die Verhaftung zustande kam. Für die Medienmeute, die sich ihre kräftigsten Bissen wie thailändische Urlaubsvideos ohnehin in Eigenregie holt (und zur Erhellung beiträgt!), werden Informationshäppchen aufgespart. Im Namen der natürlich zu schützenden Opfer und ihrer Privatsphäre wird aber auch in diesem Fall nicht nur Opferschutz betrieben, sondern dahinter verschanzen sich auch Behörden und Polizei vor unangenehmen Fragen.
Der Landeshauptmann des tüchtig-straff geführten Bundeslandes Niederösterreich beeilte sich sehr, den Opfern der Bunkertragödie einen passenden Anwalt beizustellen, der bisher als ein exzellenter Wirtschaftsfachmann gilt. Dessen erste Botschaft lautete, dass es „kein Anzeichen für ein Behördenversagen“ gebe. Alles im Griff zu haben, dafür sind die Opfer eine Schlüsselstelle. Nach dem Protest der Justizministerin und des Weißen Rings wird der Wirtschaftsanwalt nun mit einer richtigen Opferanwältin zusammenarbeiten. Wieder ein österreichischer Kompromiss.
„Es ist sicher nichts abgründig Österreichisches an diesem Fall“
Die Frage, ob dieses Kellerdrama (der vierte Fall nach Kampusch und anderen eingesperrten Kindern) landestypisch sei, beschäftigt freilich auch das Inland. Der Bundespräsident, Heinz Fischer: „Es ist sicher nichts abgründig Österreichisches an diesem Fall. Das Monströse, zu dem der Mensch fähig ist, offenbart sich überall.“ Vereinzelte Kommentatoren antworten mit „Jein“. Derartige Verbrechen gebe es überall - aber vielleicht begünstige die heimische Mentalität ja doch das jahrelange Stillschweigen gerade oft familiärer Verbrechen wie Kindesmissbrauch. Und schon sind wir mittendrin im Analyse-Strudelteig des gemütlichen Seins und Scheins.
„Kann es (das Abgründige) sich hier entfalten, weil das Böse mit einem dumpfen, habituell feigen Wegschau-Volk rechnen kann?“, provozierte Chefredakteur Hubert Patterer seine Leser und führt an, dass im Fall Josef F. patriarchalische Befehlsgewalt innerhalb der Norm gelegen habe, die Arglosigkeit der Behörden und der Umwelt verstörend sei, der Mangel an Zivilcourage nichts spezifisch Österreichisches, aber eben auch in Österreich ein gängiges Muster. Die zwanghafte Neigung zur Harmonie, zum Ruhe-haben-Wollen, zum Verdrängen und Vermeiden von Konflikten, die von der kleinen Nachbarschaft bis zur Politik reicht, wird einmal mehr besprochen. Und dass nicht nur Bürger vor der Behörde kuschen, sondern umgekehrt auch Behörden vor einem „Herrn Ingenieur“ und Mercedesfahrer (Josef F.). Mehr als die Hälfte der Österreicher sagt, dass Ämter bei „heiklen Dingen zu oft wegsehen“.
Beweise im Fall Kampusch sind vernichtet oder zurückgeben worden
Der Amstettener Fall, auch wieder vom Kommissar Zufall gelöst, fällt in eine Zeit der Polizeiskandale. Nachdem Intrigen, Machtkämpfe und Korruption die Spitzen der Wiener Polizei bis vor das Gericht brachten, werden nun auch Sitten und Gebräuche im Innenministerium durch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss geprüft. Zentral ist die Anschuldigung des früheren Kripo-Chefs Herwig Haidinger, dass es ihm seit dem Jahr 2006 aus politischen Gründen verboten worden sei, Ermittlungsfehler im Fall Natascha Kampusch zu überprüfen.
Kurz nach der Entführung des Mädchens hatte ein Polizeihundeführer auf den weißen Kastenwagen und die sexuellen Vorlieben des Täters aufmerksam gemacht - der Hinweis kam in die Schublade. Acht Jahre später, nachdem Kampusch sich selbst befreit und ihr Kerkermeister sich vor einen Zug geworfen hatte, also alles wieder in Ordnung war, wollten Politik und Polizei - ihre Ruhe haben. Auch Aussagen, dass der Täter in der Sadomaso-Szene verkehrte, Bilder und Videos tauschte, Mitwisser hatte, wurden nicht geklärt. Bilder, Tagebücher und andere Beweispapiere sind unter Verschluss, vernichtet oder zurückgegeben worden.
Ein Journalist der Londoner „Times“ erinnerte sich anlässlich des Falles in Amstetten an ein Gespräch im Büro eines Polizeigenerals. Es gab Kaffee, Kuchen und höflichen Smalltalk. Aber jede Nachfrage zum Ermittlungsstand sei mit dem Hinweis auf den Datenschutz und die Privatsphäre des Opfers beantwortet worden. Und was wolle man denn, der Täter sei doch tot. Und er, der Polizeichef, und Natascha Kampusch seien inzwischen Freunde: „A lovely girl, really.“ (Quelle:FAZ.de)
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