Das Normale als Sensation
Türkische Soaps begeistern arabische Zuschauer – und lassen Fundamentalisten vorerst in die Röhre schauen
Glückliche Eltern im saudischen Riad oder im palästinensischen Hebron haben derzeit wenig Probleme bei der Namenswahl für ihre Kleinen: Mädchen heißen "Nour", Jungen "Muhannad". Doch nicht allein diese Frage scheint im Sommer 2008 im Nahen Osten schnell geklärt, sondern auch die des Urlaubsziels: die Türkei. Vor allem Saudiaraber zieht es an den Bosporus. 100.000 sollen es laut Yasin Temizkan vom türkischen Außenministerium sein - im Vergleich zu 41.000 in 2007. Daheimgebliebene können sich dennoch trösten - beispielsweise mit einem Haarschnitt à la "Lami" oder "Nour" und den dazu passenden Kleiderkollektionen. Was los ist? Zwei türkische Seifenopern sind es.
Seit Monaten locken sie die Araber vor den Schirm – je nach Quelle zwischen 1,4 und 4 Millionen allein in Saudi-Arabien –, wobei es scheint, als werde der Alltag regelrecht um "Nour" bzw. um "Die verlorenen Jahre" arrangiert. Etwa in dem seit dem internationalen Boykott drangsalierten Gaza: wer wegen Stromausfällen die jüngsten Wirrungen in "Nour" versäumt, stellt seinen Wecker auf die frühmorgendliche Wiederholung ein. So wie die 26-jährige Hanan, die gar nicht weiß, wie sie die ignorante Frage, was so Besonderes an "Nour" sei, beantworten soll. Es sei doch alles so – romantisch!In der Tat: die Serie erzählt von der Liebe der Heldin Nour zu ihrem Mann Muhannad, der ursprünglich seiner verstorbenen – dann aber wieder auferstehenden – Geliebten nachtrauert, mit der er ein uneheliches Kind hat. Dessen ungeachtet umhegt der Beau mit dem Plüschblick seine Gattin, ja ermutigt sie gar in ihren Ambitionen als Modedesignerin. Von soviel liebevoller Rückenstärkung träumt so manch westliche Frau, wie erst die arabische, die Patriarchat und Chauvinismus in ganz anderen Dimensionen begegnet.
So verdankt sich der Erfolg beider Serien keineswegs nur der Ansehnlichkeit der türkischen Starletts, wenngleich der Umstand, dass "Muhannad"-Darsteller Kivanc Tatlitug 2002 zum weltbesten Model gekürt wurde, nicht abträglich ist und ihm Auftritte in den Musikclips der libanesischen Popsängerin Roula Saad verschafft. Auch die an "Dallas" oder "Denver Clan" erinnernde upper-class-Kulisse ist eher schmuckes Beiwerk.
Den Hauptgrund für die Beliebtheit ortet die saudische Autorin Maha Fahd Al-Hujailan in den "Gefühlen der Liebe und Sicherheit", die zumindest ihre Landsfrauen bei ihren Ehemännern vermissen würden. Für Islah Jad, Professorin am Institut für Frauenstudien der palästinensischen Universität Birzeit kommt hinzu, dass die Serien andere Seiten muslimischen Lebens aufzeigen. Zwar wird auch Nours und Muhannads Ehe über den traditionellen Familienclan geschmiedet, zwar wird auch hier dem Fastenmonat Ramadan Respekt gezollt, doch existieren zeitgleich alkoholische Getränke, Nächte außerhalb des Ehebettes und Abtreibungen – kurz Dinge, die auch im Alltag arabischer Muslime vorkommen, bislang aber nur in den türkischen Soaps thematisiert werden, wenngleich in Watte verpackt.
Unterschiedliche WertehimmelDie Stimmen erzürnter Fundamentalisten ließen denn nicht lange auf sich warten: So prangert der Großmufti Saudi-Arabiens, Scheich Abdul Aziz Al-Ascheich, die "Heimtücke" der Serien an, die die Ethik der Menschen zerstören und sich gegen "unsere Werte" richten würde. Infolge sei jede sie ausstrahlende TV-Station gegen Gott und den Propheten.
Für den saudischen Satelliten MBC, der die Serien einkaufte und der von Angehörigen des streng konservativ auftretenden saudischen Königshauses gesteuert wird, dürfte dies dennoch vorerst zweitrangig sein. Denn die muslimischen Brüder vom Bosporus sorgen nicht nur gesellschaftlich, sondern auch wirtschaftlich für eine frische Brise: Im Gegensatz zu den klassischen Produktionsländern Syrien und Ägypten sei die Türkei günstiger, sagt Fadi Ismail, Generalmanager der in Dubai ansässigen O3 Productions. Jährlich würden 90 bis 120 Serien à 100 bis 120 Episoden zum Preis von 200.000 bis 250.000 US-Dollar produziert.
Da könne Syrien vergleichsweise nicht mithalten: die Produktion starte ab 500.000, jede Folge koste zum Sendespitzenmonat Ramadan 10.000 Dollar, erzählt Wael al-Suedani, Inhaber der privaten syrischen Produktionsfirma "Al-Arabiya". Und angesichts des Top-Ten-Ratings von "Die verlorenen Jahre" auf MBC seien türkische Werbetreibende längst aufmerksam geworden, fügt Mazen Hayek hinzu. Der PR Group Director von MBC, der einen 30-Sekünder-Spot zu Ramadan mit bis zu 25.000 Dollar vermarktet, hat die türkischen Soaps bereits zu den "Brand-Botschaftern" ihrer Nation erklärt.
Die Stimmung könnte erst kippen, wenn sich der Trend verstärkt, über den unter anderem die libanesische Tageszeitung "Al-Akhbar" berichtete: Studien zufolge würde seit Serienbeginn die Scheidungsrate in Saudi-Arabien steigen. 60% hätte sie Ende 2007 erreicht. Ob der Grund stets derselbe wie bei dem 33-jährigen Saad aus Riad ist, der seine Ehefrau mit Muhannads Foto auf ihrem Handy erwischte, bedürfte weiterer Studien. Klar aber ist, dass weibliche Bevölkerungshälften, die plötzlich Liebe und Gleichstellung einfordern, tatsächlich eine Bedrohung jener "Werte" darstellen, um die der Großmufti fürchtet. Die vorerst letzte Episode von "Nour" ist jedenfalls auf den 30. August angesetzt, drei Tage später beginnt Ramadan. (Quelle:Heise.de)
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