Attacke aufs Kinderzimmer
Ihre Texte sind frauenverachtend, für den Umgang mit Gegnern oder Homosexuellen empfehlen sie Gewalt. Warum sind Rapper auch in Deutschland Vorbilder für eine Generation von Jugendlichen?
Wasiem Taha ist jetzt ein Opfer. Dabei sah es so aus, als könne nichts schiefgehen. Er hat sich einen Künstlernamen gegeben, der seine Unverwundbarkeit betont – Massiv. Er ist aus Pirmasens in der Pfalz in ein Hochhaus im schäbigen Bezirk Berlin-Wedding gezogen, hat in einem Fitnesscenter so hart an sich gearbeitet, bis er 130 Kilo stemmen konnte, hat lange nach einer unbedruckten Körperstelle gesucht und sich schließlich das Wort »Ghetto« auf einen Armmuskel tätowieren lassen. Er hat sich in Berlin neue Freunde gesucht, die seine Rap-Lieder bewundern, junge Männer, deren Eltern aus dem Libanon stammen, genau wie seine eigenen Eltern, Männer mit wilden Lebensgeschichten und heiseren Stimmen, Männer wie Ashraf, Beirut und all die anderen. Wenn sie von einer Welt erzählten, die sie auf eine einzige große Fotze reduzierten, stand Wasiem Taha daneben und hauchte ehrfürchtig: »Überkrass, yo.« Er hat an seinem Sprachschatz gefeilt, das Wort »ficken« hat bei ihm viele Funktionen übernommen, von nun an ist er Massiv.
Der 25-jährige Junge spürt schnell, wie sehr ihn die Kinder aus der Nachbarschaft bewundern. »Wer Massiv hatet, ist ein Opfer«, steht eines Morgens auf einer Wand im Fahrstuhl. Das macht ihn stolz. Opfer, das sind die Schwächlinge, denen er in seinen Liedern Unterkiefer verbiegt und die er mit Mörsergranaten bewirft. Aber inzwischen hat er selber diesen Opferblick, den zuckenden Schädel, der ängstlich hin und her pendelt, damit den Augen keine verdächtige Bewegung entgeht.
Eine Freundin hat er gefunden, Rubina, eine hübsche 19-Jährige aus dem behüteten Stadtteil Charlottenburg, aber auch sie macht sich jetzt Sorgen um ihn. Immer schaut er sich auf der Straße um, ständig dieses Misstrauen. Als Rubina vor einigen Wochen ihre Führerscheinprüfung bestand, ließ er sie seinen Wagen sofort über die Autobahn steuern. Es war das erste Mal, dass sie nicht durch die Beifahrertür einstieg, auf die ihr Freund zwei große Pflaster geklebt hat, damit der Regen nicht in die beiden Einschusslöcher rinnt, die an jenen Abend im Januar erinnern, als in Berlin-Neukölln auf den Rapper Massiv geschossen wurde. Die meisten Kugeln verfehlten ihn, aber sein rechter Oberarm wurde durchbohrt. Wer es auf ihn abgesehen hatte, fand die Polizei nicht heraus.
Er sagt, er gehe kaum noch allein vor die Tür, er verkrieche sich daheim
Angenommen, es stimmt, dass die Schüsse auf Wasiem Taha nicht inszeniert wurden, um seine Platten besser zu verkaufen, dann war das der schmerzhafte Punkt, an dem sich die Wirklichkeiten kreuzten. Es war der Moment, als die Wirklichkeit der Illusionisten eine überraschende Rückkopplung mit der Wirklichkeit auf der Straße erlebte. Es gibt offenbar Leute, die auf Märchen hereinfallen und zur Waffe greifen. Seither, sagt Massiv, gehe er nur noch morgens und mittags allein vor die Tür und verkrieche sich in der Dunkelheit meist zu Hause. Übernachtet er in einem Hotel, sitzen die Freunde aus seinem Clan in der Lobby und passen auf. »Ich ziehe Stressmacher an wie ein Magnet, egal, wo ich bin«, sagt Wasiem Taha, genannt Massiv.
Den 10000 Leuten, die sich auf seiner Internetplattform angemeldet haben, verschweigt er, dass er nach Hamburg-Eimsbüttel gefahren ist, wo er in einem Hinterhof der kleinen Wohnstraße Jaguarstieg ein neues Video aufnimmt. Bloß keine Stressmacher, die plötzlich in der Tür stehen, sich als Fans ausgeben und auf ihn losgehen. Wasiem Taha wendet sich den Scheinwerfern zu, er muss sich konzentrieren. Bis heute Nacht um drei wird er an seinem neuen Video arbeiten, hundert Mal wird er in seinen Songs fette Liebeskugeln in Ärsche schieben und rappen: »Wir sind kulturell die unterste Schicht, wir bringen das Ghetto ans Licht.« Und er weiß, wie anstrengend es ist, die inneren Verletzungen eines verdorbenen Lebens sekundengenau in sein Gesicht zu zwingen.
Rapper Massiv und der Weltkonzern Sony, sie sind nun ein Paar
Der Musikkonzern Sony BMG, einer der größten weltweit, wird auch dieses Video bezahlen, das wegen der 3-D-Effekte besonders teuer ist. Massiv und Sony, sie sind jetzt ein Paar. Er ist der einzige deutsche Gangsta-Rapper, den die Firma aus München engagiert hat, das Killergesicht auf den Posterwänden in Jugendzimmern. In seiner Heimatstadt Pirmasens schmiss er die Schule, brach eine Lehre ab, saß nach Drogendelikten im Jugendarrest. Nichts wollte ihm gelingen, dann sprang sein Ghettolied auf MP3-Playern von Kind zu Kind, und alles gelang. Er fährt jetzt eine königsblaue BMW-Limousine mit verchromten Felgen, und wenn er vor einem Schulhof hält, bedrängen ihn die Jugendlichen mit aufgeklappten Handys.
In einer Pause zwischen den Dreharbeiten stellt sein Freund Ashraf den rechten Arm senkrecht auf die Platte eines Tisches und sagt zu dem bulligen Bruder des Videoregisseurs: »Komm, versuch mal.« Ashraf gewinnt das Armdrücken, geht zum Fenster, öffnet es und schaut hinaus. Da drüben in den Reihenhäuschen, auf deren Terrassen Kinderfahrräder zusammengebunden sind, da wohnen vielleicht die allergrößten Fans des Ghettoliedes, wer weiß. Ashraf hat die Daten der Benutzer auf Massivs Internetforum durchgesehen. »Am Anfang waren das nur Ausländer, die ihn gut fanden, Hauptschüler. Jetzt haben wir auch Gymnasiumsleute und Studenten.«
Würde er auch seinen eigenen Kindern, wenn er denn mal welche hätte, Massivs Lieder vorspielen? »Auf keinen Fall«, antwortet Ashraf, »das ist nichts für jeden. Aber hör zu: Das ist Musik. Wer sich das runterlädt, der macht das eben. Es gibt Leute, die sagen: Ihr verherrlicht Gewalt. Aber ich sage dir: Wir haben in diesem Land Scheiße gesehen und in der Scheiße gelebt. Wir haben hier keine Verantwortung. Wir haben keine, null.«
Die Frage nach der Verantwortung. Jugendschützer stellen sie, Eltern quälen sich damit, Lehrer, Sozialwissenschaftler. Führt mehr Rap zu mehr Gewalt? Der Musiksender MTV, der Jugendliche mit den Melodien und Bildern ihres Lebens versorgt, zeigt Massivs Videoclips nicht, zu viel Gewalt. Aber Bushido wird gesendet, der Plattenkönig der Rapper, der sich von seinen Millionen eine Villa am Berliner Stadtrand gekauft hat. Bushidos Texte sind keine Spur harmloser. Da werden Huren kaltgemacht und Schwule geopfert, Politiker gedemütigt und Mädchen gequält. In der Zeitschrift Bravo HipHop Special, die wegen ihres großen Erfolgs inzwischen jeden Monat erscheint, präsentieren sich Musiker, die King Orgasmus One heißen, Kool Savas oder Frauenarzt. Die Bremer Rapperin Lady Bitch Ray wirbt auf ihren blütenweißen Tangas dafür, dass man in sie eindringen soll. Keine Musikrichtung ist bei den 10- bis 16-Jährigen beliebter als der Rap, besonders bei den Jungs.
Finden Teenager bei den Rappern die letzten Tabus, die sie noch brechen können? Warum regen sich Eltern so auf? Weil die rotzfrechen Besucher in den Zimmern ihrer Kinder auf Deutsch singen und man jetzt alles versteht? Oder weil man die Folgen fürchten muss?
Vor anderthalb Jahren kündigte ein 20-jähriger Tunesier aus München seinem Idol, dem Rap-Musiker Bushido, per E-Mail einen Amoklauf an. Die alarmierte Polizei fand in der Wohnung des Tunesiers einen Laptop mit Videos, die Enthauptungen infolge des Irakkrieges zeigten. Er wurde zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. In Biel in der Schweiz warfen Besucher eines Massiv-Konzerts im vergangenen Jahr mit Steinen, in Duisburg prügelten sie den Musiker von der Bühne. Er tritt jetzt nur noch selten live auf, weil keine Konzertagentur einen Reisebus voller Securityleute anheuern will. Im vergangenen November drangen vermummte Täter mit Messern beim Sender MTV in Berlin ein und versuchten, den Rapper Fler niederzustechen. Er konnte sich vor den Angreifern retten. Eine neue Dimension der Jugendgewalt?
Vor der Waldbühne in Berlin durchbrachen Jugendliche die Sperren und prügelten sich mit Polizisten. »I can’t get no satisfaction!«, hatte die Rockgruppe von der Bühne aus in die entfesselte Menge geschrien. 87 Menschen wurden in einer einzigen Nacht verletzt, unter ihnen 27 Polizisten. Das war im September 1965, auf einem Konzert der Rolling Stones. Fing mit ihnen die Verrohung der Jugendkultur an, oder war das damals noch Kunst? Zählt das nicht, weil die Gewalt nicht so beängstigend deutlich aus den Texten gellte?
Man kann Deutschlands Jugendforscher befragen und ist danach keinen Schritt weiter. Ein paar Interviewreihen mit Jugendlichen aus der Hip-Hop-Szene gibt es, aber keine größere empirische Untersuchung über deutschen Rap und Gewalt. Am Ende sitzt da immer ein Forscher, der sagt: Sorry, so genau kann das niemand wissen. »Diese Jungs machen auf dicke Hose, wollen aber nur spielen. Das Beste, was ihnen passieren kann, ist, dass sich jemand aufregt«, wiegelt der Dortmunder Soziologe Ronald Hitzler ab, der sich über Jahre in der Jugendszene umgeschaut hat. »Das Ganze ist ein Zeichen für Verrohung«, meint hingegen der Jugendforscher Klaus Hurrelmann. Immer mehr Teenager machten Erfahrungen mit Gewalt. Ausgerechnet sie stachele der Rap besonders an.
Unter der Bomberjacke wölben sich 120 Kilo, der Oberkörper ist tätowiert
Ihr Dilemma, sagen die Forscher, beginne damit, dass erwachsene Fragensteller mit Teenagern kaum vernünftige Interviews über deren Gefühle und Gedanken führen könnten. Und jeder Wissenschaftler schlägt sich mit der Einsicht herum, dass Musik niemals allein ein Leben bestimmen kann. Viele Dinge kommen dazu – Milieu, Freundeskreis, Schule, Internet, Fernsehen, Vorbilder, Rollenerwartungen der Kumpel, die eigene Charakterstärke. Greift ein Fan zur Waffe, weil Massiv enthemmte Lieder singt, oder bietet sich ein Massiv-Auftritt nur als Forum für Gewalt an, die schon tief in der Seele nistet? Christoph Liell, der in Erfurt seine Diplomarbeit über Gewalt und Musik schrieb, meint, dass auch harte Musik »keine direkte Verbindung zu Gewalt hat«. Und indirekt? Tja, ein Verstärker der Gewaltbereitschaft könne der Rap schon sein. Klaus Farin, Leiter des Archivs der Jugendkulturen in Berlin, sagt: »Gefährdet ist nur derjenige, der sich gefährden lassen will.«
Joe Rilla ist ein wenig angespannt an diesem Morgen. Er schaut sich immer wieder um, als würde er verfolgt, gerade hat ihn ein älterer Herr im Vorübergehen »Wichser« genannt. Rilla steht auf der Oberbaumbrücke in Berlin, hinter ihm parkt sein alter schwarzer Mercedes, auf der Motorhaube leuchtet sein Logo: eine Glatze mit zwei gekreuzten Baseballschlägern darunter. Er ist zwar noch im Ostteil der Stadt, aber er fühlt sich nicht sicher. Das ist nicht mehr seine Gegend. Alles, was außerhalb von Marzahn, Hellersdorf, Hohenschönhausen, den großen Neubaugebieten, liegt, ist potenzielles Feindesland. Hier könnte er nicht innerhalb weniger Minuten ein »Back-up« organisieren, ein paar Jungs zu seiner Verteidigung zusammentelefonieren.
Joe Rilla ist 33, heißt eigentlich Hagen Stoll, hat sich den Schädel kahl rasiert, unter seiner Bomberjacke wölben sich 120 Kilo. Sein Oberkörper ist tätowiert, vor Kurzem sind noch ein paar Plattenbauten auf dem linken Oberarm hinzugekommen. Er sieht aus, wie man sich einen ostdeutschen Nazi vorstellt. Im schicken Berlin-Mitte kann er kaum ein Restaurant betreten, ohne dass die Kellner fliehen. Seit seiner CD Auferstanden aus Ruinen und seitdem seine Glatze in Zeitungen zu sehen war, bekommt er Morddrohungen per Mail und Telefon, von Linken und Rechten. Beide Seiten scheinen nicht ganz sicher zu sein, wo er einzuordnen ist.
Der ältere Herr ist inzwischen weitergegangen, bleibt aber kurz auf der Brücke stehen und zieht sich Handschuhe an. Tyron, Rillas Bodyguard, behält ihn fest im Blick. »Er passt ein bisschen auf mich auf«, sagt Rilla. Tyron ist noch ein wenig breiter als Joe. Früher hat er als Privatdetektiv Banden gejagt. Jetzt wohnt er bei Joe.
Von der Brücke aus kann Joe Rilla in der Ferne das MTV-Gebäude sehen. Er war noch nie dort, seine Musik läuft nicht auf MTV. In seinem Video Der Osten rollt singt Rilla vor Trabis und grauen Plattenbauten von prügelnden Hooligans: »In meiner Gegend feiern Hools, wenn sie Rapper von der Bühne schlagen.« Im Hintergrund zerdrischt ein Mann mit dem Kopf Betonplatten. Das ist das Video, das MTV nicht zeigen mag. Der Programmchef meint, Rilla fische am rechten Rand. 18 Lieder Osten, Platte, Wut über harte Beats.
»Für mich sind Plattenbau und Trabi meine Realität – das Klischee im Klischee. Ich kann mich nicht mit Perücke vor die Platte stellen«, sagt Joe Rilla. Die Bomberjacke hat er vor Jahren übergezogen, als er noch Graffitisprayer war, um die Polizei zu täuschen. Sie war seine Tarnung. Nun ist sie Ausrufezeichen und Provokation zugleich. Platte, Glatze und Bomberjacke – das sind die Bilder, mit denen er auffällt; die Bilder, bei denen die Entscheider in den Sendern aufhören, auf die Texte zu achten. »Sie kennen uns nicht. Sie wissen nicht, wer wir sind«, rappt Rilla. »Ich bin das Sprachrohr des Ostens«, sagt er und grinst.
Viele CDs des Labels Aggro Berlin stehen auf dem Index
Nachdem bisher vor allem Migrantenkinder den deutschen Gangsta-Hip-Hop beherrschen, ist Joe Rilla, der vermeintliche Nazi-Rapper aus Marzahn, die neueste Entdeckung der Szene. »Wenn man aus dem Osten kommt, ist es schwierig, sich mit Bushido zu identifizieren. Dieses Messer-und-Bruder-Ding kann ich nicht nachvollziehen. Ich mache keine Musik, um gehasst zu werden. Ich bin authentisch«, sagt er. Letztendlich wetteifern sie alle darum, wer den härteren Existenzkampf führt, wessen Viertel das schlimmste ist, wer noch weiter am Rand der Gesellschaft steht. Sie wetteifern auch um die Gunst der bürgerlichen Kinder, die sich gern gruseln. Es ist ein Kampf der Realitäten in einem Geschäft, in dem es um die Wirklichkeit geht: Wann ist man noch authentisch, wann schon ein Produkt?
Joe und Tyron setzen sich ins Auto, der ältere Herr ist weg. Sie schwärmen vom vergangenen Wochenende. In einem Dresdner Striplokal feierten sie Tyrons 30. Geburtstag. »Die Jungs haben sich benommen, gab nur ’ne kleine Keilerei«, sagt Tyron. Die beiden sind auf dem Weg zu Rillas Plattenfirma Aggro Berlin, dem bekanntesten deutschen Hip-Hop-Label. Rilla will den Chefs sein neues Album vorspielen. Bei Aggro sind auch Sido, Fler und B-Tight. Auf der Liste der indizierten Rap-CDs der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien stehen viele Aggro-Produktionen. Einem der Aggro-Chefs hat Rilla einmal seine Gegend Marzahn gezeigt. Sanierte Plattenbauten, so weit das Auge reicht. Der Plattenchef war verwundert: Alles schien so ordentlich, so sauber. Von außen.
An einem sonnigen Vormittag hält Joe Rilla vor seiner alten Schule, früher die 5. Polytechnische Oberschule Wolfgang Langhoff, benannt nach einem Antifaschisten. Sie heißt jetzt »Unter dem Regenbogen« und ist eine Grundschule. Joe zeigt auf ein Haus gegenüber, den »Akaziengrund«, Anfang der Neunziger war das der Nazitreff der Gegend. Vor dem Club sei damals ein Vietnamese abgestochen worden, sagt er. Kurz nach dem Mauerfall war Marzahn eine polizeifreie Zone. Die NPD organisierte Fackelumzüge und Aufmärsche, und Joe sah zu, wie seine alten Schulfreunde sich Reichsadler auf die Stirn tätowierten. Die Kinder des Ostens waren auf der Suche nach einem neuen Glauben. Und Rilla hatte ein Problem: Er stand auf der falschen Seite. Er war der, der Hip-Hop hörte – »Negermusik«.
Er führte ein Leben auf der Flucht. Einmal schlugen Skinheads ihn mit einem Baseballschläger von der Parkbank, ein anderes Mal lag er auf der Straße, und sie traten ihn in den Bauch. Sein Bezirk schien sich in einen undurchdringlichen Dschungel zu verwandeln. Und Hagen Stoll nannte sich Joe Rilla, das klang wie Gorilla.
Nach dem Jahr im Gefängnis begann Rilla ernsthaft zu rappen
Er war 14, als die Mauer fiel, sein Land löste sich vor seinen Augen auf. Seine Eltern trennten sich. Der Vater hatte beim Zoll an der Berliner Mauer gearbeitet, das neue System blieb ihm fremd. »Ich wollte Luxus«, sagt Rilla. Er schloss sich einer Bande an, sie überfielen Läden, er fuhr Sportwagen und schlug sich beim BFC Dynamo nach den Spielen in der dritten Halbzeit. Und einmal raubte er die Kasse einer Tankstelle, auf der Flucht hätte er beinahe die Kassiererin überfahren. Er wurde gefasst, bekam ein Jahr wegen Raubüberfalls und versuchten Totschlags. »In der Haft wurde ein Schalter umgelegt«, sagt Joe Rilla. Er redet nicht gern darüber. Nach dem Gefängnis begann er ernsthaft zu rappen. Ein Musikverlag nahm ihn unter Vertrag, Rilla schrieb die Melodie für eine McDonald’s-Kampagne. Bis heute verdient er hauptsächlich mit Beats, die er komponiert und an andere verkauft.
Die Fahrt endet am Eastgate, einem von Berlins größten Einkaufszentren im Schatten der Hochhäuser. Es ist Mittag, und es haben schon ziemlich viele Menschen viel Zeit. Joe Rilla erzählt von Kindern, die Eisspray aus der Apotheke inhalieren, damit ihre Luftröhre vereist für den ultimativen Kick; von Arbeitsämtern, die abgerissen werden, und von den Russlanddeutschen, die Marzahn nun beherrschen. Rilla hat ein Stuhlbein unterm Autositz, für den Notfall. Sein Handy klingelt, sein Produzent ist dran: »Der Scheißkurier steht vor deiner verkackten Tür mit der verkackten CD! Fick die Henne!«, brüllt Rilla in den Hörer. Nachdem er aufgelegt hat, redet er normal weiter. Er hat den Sprachwechsel gar nicht bemerkt.
Vor zwei Jahren hat Joe Rilla seine Gegend verlassen, er lebt jetzt außerhalb Berlins in einem Einfamilienhaus. Es störte ihn, dass die Kindergärtnerinnen seiner Tochter nie lächelten. Er sagt, er schlafe nun auch viel besser als früher im Plattenbau, wo er jeden Streit der Nachbarn verfolgen konnte. Als ProSieben einen Beitrag über ihn drehen wollte, sagten die Redakteure ab, als sie hörten, dass er umgezogen war und auch kein Rechtsradikaler sei. Das Bravo HipHop Special fotografierte ihn in der Wohnung eines Freundes und behauptete, er wohne noch im Plattenbau. Joe Rilla, der Hooligan-Ost-Rapper, im Familienhaus mit abgezogenen Holzfußböden und mit Schwiegereltern im Arm hätte nicht gut ausgesehen. »Viele hätten gern, dass ich der Nazi bin«, sagt er.
Auf dem Tisch in Joes Plattenfirma Aggro stehen Flaschen mit italienischem Mineralwasser, die Vorhänge haben Tarnfarben. Die drei Gründer des Labels: Spaiche, ein Ostdeutscher und früher ein bekannter Breakdancer, Halil, ein Deutschtürke aus Kreuzberg, und Specter, ein gebürtiger Franzose und ehemaliger Graffitisprayer, warten. Dem Label wird oft nachgesagt, dass es seine Künstler zu Klischees aufbaue: Aus Sido wurde der Mann mit der Maske; aus Fler der deutschtümelnde Rapper aus dem Westghetto; aus B-Tight der frauenverschlingende »Neger«. Und nun füllen sie mit Joe Rilla eine letzte Nische: den Osten. Zugleich werden die Aggro-Chefs für ihr »zugespitztes Marketing« bewundert. »Wenn die Künstler das nicht in sich hätten, könnten wir das auch nicht erfinden. Wir können nur etwas verstärken«, sagt Specter.
Rillas erstes neues Lied handelt von einem afrikanischen Flüchtling, der nach Deutschland kommt, weil er »neue Beine haben will«. Im nächsten geht es um Thommy aus Leipzig, der Flaschen sammelt, um zu überleben; es folgt ein Song über eine krebskranke Mutter. Am Schluss sagt Joe Rilla, das sei jetzt alles etwas kommerzieller. »Ich wollte nicht immer nur Rilla sein, der draufhaut. Ich bin auch der Daddy.« Spaiche widerspricht: »Ich weiß nicht, ob das kommerziell ist.« Halil ist unsicher: »Ich feiere eher, wenn du auf die Fresse haust.« Specter zieht an seinem Joint, dann sagt er: »Die Nummer mit dem Afrikaner musst du umdrehen. Erzähl von einem Ossi, der hier nichts mehr zu fressen hat. Dann wird das was Neues, Mann.«
Rilla hat noch ein paar härtere Sachen dabei, Marzahner Berserker und Deutsch-Rap-Hooligan: »Ja, wir sind gewaltbereit. Bei mir bist du ein krasser Kunde, wenn du ein paar Namen nennst.« Halil: »Das muss aufs Album!« Und Rilla zeigt noch ein Video, zu Heavy-Metal-Klängen singt er: »Friss meinen Schmerz.« Spaiche ist begeistert. Das sei was Neues, allerdings werde MTV auch das nie spielen. »Hast du noch mehr davon?«, fragt Specter. Joe nickt. Gemeinsam überlegen sie, wann und wie sie das neue Album herausbringen sollen. Konzerte wird es kaum geben. »Joe Rilla zu verbooken ist fast unmöglich. Irgendwo sitzt immer ein gescheiterter Alt-68er, der die Jugend schützen will«, sagt Spaiche.
Der Musikmanager – verheiratet, Kinder – hält Massiv für vertretbar
Im Nebenzimmer zeigt Specter auf seinem Computer ein neues Video aus Frankreich. Mehrere Araber stehen vor einem französischen Plattenbau, sie tanzen mit riesigen MGs, jemand wird zusammengeschlagen und angezündet. Alles ist auf die Spitze getrieben, ein einziger riesiger Witz. Oder nicht?
»Wer das ernst nimmt, ist selbst schuld«, sagt Specter. Er findet, die Jugendlichen würden krass unterschätzt. »Kunst ist unantastbar.« Gibt es eine Grenze? Doch, die Rapperin Lady Bitch Ray habe Aggro nicht unter Vertrag genommen. »Sie wäre beim ersten Konzert erschossen worden.« Möse und Allah in einer Zeile vereint, da hätte es sein können, dass ein muslimischer Familienvater ausrastet. Das habe Aggro nicht verantworten wollen. Der Musikkonzern Universal hat sich nun ein wenig »Street-Credibility« gekauft und arbeitet mit Aggro zusammen. Hat Aggro damit seine Glaubwürdigkeit verloren? Das Musikgeschäft sei längst tot, meint Specter. »Da musst du mit dem Rudel dickster Geier unterwegs sein, sonst kriegst du nichts mehr ab.«
Joe Rilla fährt mit Tyron in seinem Mercedes wieder in Richtung Osten. Tyron erzählt von Mädchen mit Silikonbrüsten. Joe telefoniert mit seiner Frau. Ihre gemeinsame Tochter ist drei und wünscht sich als Schlaflied immer Der Osten rollt von ihrem Vater. Den Refrain singt sie schon mit: »Sie nennen mich Rilla, Junge, des Ostens Stolz. Ich bring den Osten hiermit zurück auf die Karte. Der Osten rollt, Junge. Hörst du, was ich sage?« Die Zeilen über die Hooligans kann sie noch nicht.
Vor ein paar Wochen hielt der Filmwissenschaftler Stefan Linz einen kleinen Vortrag bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen in Berlin, einem Verein der Fernsehindustrie, der die Programme auf jugendgefährdende Inhalte hin prüft. Um die »Sprache als Risiko« ging es dem Redner Linz, »die Sprache in deutschen Hip-Hop-Videoclips«. 30 Zuhörer hatte er erwartet, aber es kamen mehr als 100. Erstaunlich, dachte er, wie viele Erwachsene sich für dieses Thema interessieren.
Erstaunlich ist auch, wie ratlos die Experten sind, sobald man von ihnen wissen möchte, warum der deutsche Rap bei Jugendlichen so beliebt ist. Rebelliert da die deutsche Unterschicht? Brüllt das Prekariat? Politiker, Verbandsfunktionäre und Jugendschützer sind über die Songtexte von Rappern sehr besorgt; aber wenn man von ihnen erfahren will, wo gesellschaftliche Ursachen liegen, bleibt ein verlegenes Schweigen.
Statt auf die Rap-Musiker einzuschlagen, müsse man fragen: »Warum ist Sexismus wieder angesagt in dieser Gesellschaft?« Klaus Farin vom Archiv der Jugendkulturen in Berlin hält die Rapper für Seismografen einer sozialen Erschütterung. Es sei dumm, den Seismografen zu zertrümmern. »Jugendliche drücken radikaler aus, was sie in der Erwachsenenwelt gelernt haben. Auch die Anbieter und Vermarkter von Gangsta-Rap sind keine Jugendlichen.«
Philip Ginthör ist zwar erst 32 Jahre alt, er trägt auch noch seine modische Fransenfrisur, aber er fühlt sich von den Teenagern, für die er immer neue Lockmittel erfinden muss, weiter entfernt als von so manchen 50-Jährigen. Es ist die Routine in einem ernsthaften Geschäft, die einem schnell das Kreischen abgewöhnt. Ginthör war früher Assistent des BMG-Chefs Rolf Schmidt-Holtz und wohnte in New York, jetzt leitet er bei Sony BMG in München eigenständig das Plattenlabel Columbia. Er hat es mit Leuten zu tun, die am Ende eines Tages Verkaufszahlen von Bildschirmen ablesen, nicht mit Träumern.
Als Ginthör die Nachricht von dem sagenhaften Ghettojungen erreichte, warnten ihn Kollegen aus der Branche: »Wenn du dich mit dem triffst, dann pass auf, dass sie dich nicht abstechen.« Philip Ginthör lachte, stieg in München in ein Flugzeug und traf sich in Berlin gleich mit diesem jungen Wilden, den er für seine Show engagieren wollte, in der schon TicTacToe und Wolfgang Petry aufgetreten sind, aber noch keiner aus der Unterwelt. »Massiv, allein dieser Körper«, dachte Ginthör, »er ist so unglaublich credible.« Das sei »der Krasseste von allen«, hatte Ginthör sich sagen lassen und handelte mit Massiv einen Vertrag aus, der in der Branche als »übertrieben fett« gilt, fast 100000 Euro.
Philip Ginthör ist ein lässiger, umgänglicher Typ. Mit seiner Frau und seinen kleinen Kindern lebt er am Rande von München. Er kann sich gewählt ausdrücken, nur auf eine Frage fällt ihm spontan nichts ein: Würden Sie Ihren Kindern eine CD von Massiv unter den Weihnachtsbaum legen? Die Frage macht ihn hilflos und stumm.
Philip Ginthör fing einmal eine Doktorarbeit an, beschäftigte sich mit Rousseau und den unveräußerlichen Menschenrechten, belässt es heute aber meist bei Onlinenachrichten und der Bild-Zeitung. Seit Ginthör denken kann, geht es abwärts mit der Musikindustrie, die immer weniger CDs verkauft, weil sich die Leute ihre Songs illegal im Internet herunterladen.
Der Senior Vice President fragte Ginthör, ob er die Texte dieses Rappers gelesen habe. »Ich halte sie für vertretbar«, antwortete Ginthör und verlangte von Massiv, dass er ihm jetzt immer alle Verse zeigt, aber nie hat der junge Sony-Manager daran etwas auszusetzen. »Ich liebe den Mythos eines Stars«, sagt er, »auch das ist es, was wir verkaufen. Das ist es, was die Leute wollen.« Massiv hat von seinem neuen Album 15000 Scheiben verkauft, nicht sensationell, nicht katastrophal. Sein Partner Sony BMG ist Teil des Weltreiches Bertelsmann, und so gibt es jetzt eine geschäftliche Verbindung zwischen der Konzernherrin Liz Mohn in Gütersloh und einem tätowierten Rapper in Berlin-Wedding.
Für seine Mutter wird Wasiem niemals Massiv heißen
Auf die Probe gestellt wurde die Beziehung, als Massiv vor drei Monaten angeschossen wurde und sein Manager Ginthör fürchten musste, der Junge werde ausrasten, auf Rache sinnen und den sauberen Konzern in einen Bandenkrieg ziehen. »Bleib ja ruhig«, riet ihm Ginthör, »konzentrier dich auf die Musik.«
Nach einer langen Nacht, in der Massiv einen neuen Rap in seine schwarze Kladde geschrieben hat, bringt seine Mutter ihm Tee. Sie hat sich ein schwarzes Kopftuch umgebunden, wie immer. Wenn sie ihn liebevoll von der Seite anschaut, dann verrät ihr Blick etwas von den Sorgen und Zweifeln, über die sie nur zögerlich spricht. Mein Wasiem, wird alles gut enden? Das erste Mal verdient er jetzt auf legale Weise Geld, das die ganze Familie ernährt. Die Mutter schneidet jeden Zeitungsartikel über ihn aus. Seinen Vater fährt er morgens zu dem Altenheim, wo er Hausmeister ist. Sein Vater, sagt der Junge stolz, war in 24 Berufsjahren nur einmal krank.
In diese Wohnung, vier Zimmer im vierten Stock eines Hochhauses, hat er die Familie geführt, er, Wasiem, der für die Mutter niemals Massiv heißen wird. Bei seinen Eltern gebettelt hat er, damit sie ihn begleiteten, als er vor zwei Jahren aus der Pfalz in die Hauptstadt der deutschen Rapper zog. Oft hat die Mutter sich über seine schamlosen Lieder geärgert, über die nackte Brust einer Frau in seinen Videos. »Das ist Kunst, Mama«, hat er trotzig gesagt, aber sie wollte davon nichts wissen.
Seine Lehrerin erinnert sich gern an Wasiem, den freundlichen Schüler
Er schrieb einen Rap allein für sie, den er Mama nannte. »Ich bitte dich um Vergebung«, singt er. Noch immer liegt das rote Herzkissen auf dem Sofa in Wasiem Tahas Zimmer, der zottelige Teddybär, die Liebesbeweise aus seiner Kindheit, von der er erzählt, dass sie im Ghetto erstickt worden sei. »Er war ein lieber, schüchterner Junge«, sagt seine frühere Grundschullehrerin aus Pirmasens, wenn man sie nach ihm fragt. Beim Laternenumzug habe er sich von der Hand der Mutter erst lösen können, als ihm die Lehrerin ihre Hand angeboten habe. »Nein, er hat mich nie angegriffen. Das muss er geträumt haben«, sagt sein früherer Hauptschuldirektor. In seinen zweieinhalb Jahren an der Berufsschule, sagt die Leiterin, wurde er nur wenige Male ins Klassenbuch eingetragen, meist wegen Unpünktlichkeit. Der Stadtteil Horeb, wo er aufwuchs, ist eine Gegend der einfachen, braven Leute, ein Viertel der Handwerker und Ladenbesitzer, er ist vieles, bloß kein Ghetto.
Wasiem Taha hat seine Kindheit künstlich verfinstert, damit sein Ghettolied glaubwürdiger klingt, damit er sich in der schrillen Berliner Musikszene als Provinzjunge behaupten kann und damit er Sony nicht enttäuscht. »Wie er diesen gequälten Ton in seine Stimme holt: faszinierend«, findet sein Sony-Manager.
Lernt man die Leute kennen, die ihn als authentisch preisen, all die Talentspäher, Betreiber von Internetplattformen, Programmchefs von Musikkanälen, all die Impresarios der Unterschichten-Nummer, dann staunt man, wie viel gutbürgerliche Doppelmoral da zusammenkommt: wie viele 40-jährige Männer, die ihre Wohlstandsbäuchlein unter Schlabberhemden verstecken und sich bei Massiv in einem rücksichtsvollen Flüsterton nach dem Heilungsprozess im Oberarm erkundigen, wie viele gebildete Leute, die frühmorgens mit ihren getrimmten Hunden durch den Wald joggen, bevor sie sich von Ghetto-Beats in Stimmung bringen lassen, wie viele mitteilungsfreudige Menschen, die ihren grau gewordenen Eltern nicht mehr erklären können, womit sie ihr Geld verdienen. Machst du dein Geschäft etwa mit Gewalt?Lernt man die Leute kennen, die ihn als authentisch preisen, all die Talentspäher, Betreiber von Internetplattformen, Programmchefs von Musikkanälen, all die Impresarios der Unterschichten-Nummer, dann staunt man, wie viel gutbürgerliche Doppelmoral da zusammenkommt: wie viele 40-jährige Männer, die ihre Wohlstandsbäuchlein unter Schlabberhemden verstecken und sich bei Massiv in einem rücksichtsvollen Flüsterton nach dem Heilungsprozess im Oberarm erkundigen, wie viele gebildete Leute, die frühmorgens mit ihren getrimmten Hunden durch den Wald joggen, bevor sie sich von Ghetto-Beats in Stimmung bringen lassen, wie viele mitteilungsfreudige Menschen, die ihren grau gewordenen Eltern nicht mehr erklären können, womit sie ihr Geld verdienen. Machst du dein Geschäft etwa mit Gewalt?
Man könnte die Schüsse auf Wasiem Taha als extremen Sonderfall abhaken, wenn nicht ständig diese Nachrichten auf seinem PC einträfen, bis zu hundert am Tag. »Scheiß auf deine Haters«, schreiben ihm Jugendliche, und weil es so viele geworden seien, sagt er, antworte er ihnen nicht mehr. An dieser Kunstfigur haben so viele Leute mitgewirkt, dass Wasiem Taha erschrickt, wenn ihn die E-Mails an seine Urheberschaft erinnern. »Alles Verrückte«, sagt er nur. Die Verrückten schreiben ihm:
»Willst du beim Kampf von meinem Bruder live dabei sein?« – »Wenn wir Moslems jetzt nicht zusammenhalten, wann dann?« – »Habe vor 8 Wochen Bullen zusammengeschlagen.«
Aber Wasiem Taha will nicht verantwortlich sein für die Lawine, die Massiv losgetreten hat. Da ist sie wieder, die Verantwortung, die jeder im Rap-Gewerbe so weit von sich wegschiebt, dass er nichts mehr davon spürt. Wenn da draußen tatsächlich ein Polizist verprügelt würde, könnte niemand Massiv bezichtigen. Die Rap-Musik hat einen unauffälligen Jungen zum Schläger werden lassen? Wer diesen Beweis führen wollte, würde sich lächerlich machen. Deswegen haben es die Männer mit den Ghettoliedern so einfach, ihrer Verantwortung für die Kinder in den echten Ghettos zu entkommen.
Das Durchschnittsalter der Bundesjugendschützer liegt bei 50
600 Kilometer von Berlin entfernt, weit weg von den trostlosen Bezirken Wedding und Marzahn, sitzen in einem aufgeräumten Bürogebäude in Bonn diejenigen, die Jugendliche vor der gefährlichen Musik schützen sollen, die Wächter von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien. An diesem Tag werden die Damen und Herren des »12er-Gremiums«, wie es amtsintern heißt, über die CD des Aggro-Künstlers B-Tight entscheiden. Meist beschäftigen sie sich mit Nazibands, aber seit 2003 auch immer mehr mit Musik aus dem »Themenbereich Hip-Hop«. Seitdem nicht nur Jugendbehörden, sondern verschiedene Ämter Anträge stellen dürfen, gibt es immer mehr Indizierungsverfahren. Es scheint eine gewisse Sehnsucht nach Regeln zu geben, nach einer höheren Instanz, die Grenzen setzt. Wenn eine CD indiziert wird, verschwindet sie unter dem Ladentisch, außerdem darf nicht für sie geworben werden. Deshalb kommen die Jugendschützer oft in den Texten der Rapper vor, sie werden beleidigt.
Im Konferenzraum der Prüfstelle tagen zwölf Frauen und Männer, das Durchschnittsalter liegt bei 50. Es sind Vertreter der Länder, von Jugendbehörden, der Kirche und der Kultur. Neonlicht strahlt ihnen auf die Köpfe. Peer Bießmann, ein junger Mann im Anzug und Anwalt des Musiklabels Aggro Berlin, bemüht sich gerade, ihnen das Genre Hip-Hop zu erklären: »Ganz wichtig ist die Methodik des Battle-Raps, des Wortkampfes, als Ersatz für tatsächliche Gewalt. B-Tight ist ein Afrodeutscher. Er kommt aus dem Märkischen Viertel, einem problematischen Viertel in Berlin. Seine Mutter war Alkoholikerin. Seinen Vater kennt er nicht. Man muss die Texte also im Gesamtkontext sehen und nicht einzelne problematische Textzeilen sezieren.«
Eine Mitarbeiterin versucht daraufhin, den CD-Player in Gang zu setzen, was ihr erst nach mehreren Versuchen gelingt. Die Leiterin der Behörde, Elke Monssen-Engberding, will den Titel Alles Fotzen außer Mama hören. Es folgt Titel 12: Fick Dich. Einige Gremiumsmitglieder greifen zum Obst auf dem Tisch. Titel 18 ist dann der Höhepunkt: Sex und Gewalt. Wahrscheinlich wurde er speziell für dieses Gremium geschrieben, jeder Rapper weiß, dass die Wächter auf diese Mischung sehr sensibel reagieren. In dem Lied sticht eine Frau einen Mann ab, um sich für all die bösen Männer ihrer Vergangenheit zu rächen. Es endet mit einem langen Schmerzensschrei. Der Vertreter des Saarlandes fragt den Anwalt: »Wie soll ich die Zeile ›Ich knips dein Licht aus‹ verstehen?«
»Das heißt nicht, kauf dir eine Knarre und durchlöchere den Feind. Das ist Metaphorik, um zu erklären, was man mit dem anderem fiktiv machen will«, antwortet Bießmann.
»So kann, so muss man es aber nicht verstehen. Der einfach gestrickte Jugendliche kann das falsch auffassen«, sagt der Vertreter des Saarlandes.
Die Leiterin mischt sich ein: »Es ist immer das Gleiche beim Hip-Hop. Alles ist verbal gemeint, und wir verstehen es meistens falsch.« Bießmann geht nicht darauf ein, er sagt: »Bei dem Titel Fick Dich stößt Ihnen wahrscheinlich das ›Ficken‹ auf. Das ist nicht wörtlich zu verstehen. Es ist keine Aufforderung zum Geschlechtsverkehr.« Der Vertreter des Saarlands widerspricht: »Ficken hat ja schon Zugang zum Duden gefunden und hat mehrere Bedeutungen. Im Antifa-Bereich kann es auch ein Aufruf zur Gewaltanwendung sein.«
Bießmann wird ärgerlich. »Bei der Zeile ›Fick den Bundestag‹ ist doch klar, dass der Künstler dem nicht Gewalt antun will.« Auch die Leiterin Monssen-Engberding hat noch eine Frage: »Bei Titel 22, Ich fackle jeden Penner ab, können Sie mir sagen, für welches Synonym da Penner steht?« »Es ist kein Synonym für Obdachlose. Es ist ein abwertendes Wort für jemanden, der nicht up to date ist. Ich benutze es auch im privaten Gebrauch. Womöglich haben Sie es auch schon mal gesagt?« »Nein! Ich finde es nicht lustig.« »Sie sind nicht die Zielgruppe!«
Anwalt Bießmann raucht vor der Tür, während das Gremium abstimmt. »Meine Eltern verstehen Rap auch nicht«, sagt er. Das Gremium beschließt, mehrere Titel des Albums von B-Tight zu indizieren. Bießmann kann seinen Frust nicht ganz verbergen. »Ich würde mir wirklich wünschen, dass hier auch mal Vertreter der Zielgruppe sitzen.« Monssen-Engberding, die Leiterin, bleibt zurück. Sie ist seit 29 Jahren bei der Prüfstelle. Früher hörte sie hier Beatles und Rolling Stones. »Da gab es keine schrecklichen Texte.«
Es fällt auf, dass die meisten, die über Hip-Hop entscheiden, der 68er-Generation angehören, nun sitzen sie auf den Posten, die sie damals verabscheut hätten. Die Helden ihrer Kinder und Enkel rebellieren jetzt gegen das, wofür sie kämpften: Pazifismus, Multikulti und Emanzipation der Frau.
Der erste Strafprozess gegen Rapper, die detailgenau Folter und Mord beschreiben
m Sommer wird der Kampf um den Schutz der Jugend den Staatsanwalt Thomas Schulz-Spirohn in Berlin erreichen. Er wird den ersten deutschen Gerichtsprozess gegen Rapper führen, gegen die bisher kaum bekannten Musiker Blokkmonsta, Schwarz und Uzi. In ihren Liedern zünden sie die Bundesprüfstelle an, bedrohen die SPD-Politikerin Monika Griefahn mit Tod und Folter, weil sie mehr Kontrolle für harten Hip-Hop forderte, und beschreiben detailgenau die Hinrichtung von Polizisten. Der Staatsanwalt muss in den Akten nachblättern, um aufzuzählen, wie viele Straftatbestände erfüllt werden: »Gewaltverherrlichung, Aufforderung zu Straftaten, Volksverhetzung, öffentliches Androhen von Straftaten, Bedrohung und Beleidigung.« Bis zu fünf Jahre Haft drohen.
Wann wird ein Songtext zum Verbrechen? »Die Kunstfreiheit gilt nicht schrankenlos. Sie können auf der Theaterbühne auch nicht einen echten Mord darstellen und behaupten: Das ist Kunst«, sagt der Staatsanwalt. Je detaillierter Grausamkeiten beschrieben würden, desto schlimmer. Verbote machen die Lieder und die Künstler erst wirklich bekannt, das weiß er. »Aber es bleibt nicht ohne Auswirkung, wenn Jugendliche von früh bis spät hören, wie andere gefoltert werden und brutaler, rücksichtsloser Sex angepriesen wird. Ein Zwölfjähriger versteht die Ironie nicht.«
Der Staatsanwalt ist jetzt 44 und hört zu Hause Hip-Hop, Kanye West und Eminem. Sein 17-jähriger Sohn findet es »superärgerlich«, dass der Vater fast die gleiche Musik mag wie er. Auf seinen Laptop hat der Sohn nun ein Foto von Blokkmonsta als Hintergrundbild geladen. Er lässt demonstrativ die Tür offen stehen, sobald er in seinem Zimmer die Titel laut dreht, die sein Vater anklagt. Wenn sich sein Vater darüber aufregt, ist es ein perfekter Tag.(Quelle:Zeit.de)
Plattenrezensionen, Künstlerporträts und Bildergalerien gibt's auf zeit.de/musik »
Wasiem Taha ist jetzt ein Opfer. Dabei sah es so aus, als könne nichts schiefgehen. Er hat sich einen Künstlernamen gegeben, der seine Unverwundbarkeit betont – Massiv. Er ist aus Pirmasens in der Pfalz in ein Hochhaus im schäbigen Bezirk Berlin-Wedding gezogen, hat in einem Fitnesscenter so hart an sich gearbeitet, bis er 130 Kilo stemmen konnte, hat lange nach einer unbedruckten Körperstelle gesucht und sich schließlich das Wort »Ghetto« auf einen Armmuskel tätowieren lassen. Er hat sich in Berlin neue Freunde gesucht, die seine Rap-Lieder bewundern, junge Männer, deren Eltern aus dem Libanon stammen, genau wie seine eigenen Eltern, Männer mit wilden Lebensgeschichten und heiseren Stimmen, Männer wie Ashraf, Beirut und all die anderen. Wenn sie von einer Welt erzählten, die sie auf eine einzige große Fotze reduzierten, stand Wasiem Taha daneben und hauchte ehrfürchtig: »Überkrass, yo.« Er hat an seinem Sprachschatz gefeilt, das Wort »ficken« hat bei ihm viele Funktionen übernommen, von nun an ist er Massiv.
Der 25-jährige Junge spürt schnell, wie sehr ihn die Kinder aus der Nachbarschaft bewundern. »Wer Massiv hatet, ist ein Opfer«, steht eines Morgens auf einer Wand im Fahrstuhl. Das macht ihn stolz. Opfer, das sind die Schwächlinge, denen er in seinen Liedern Unterkiefer verbiegt und die er mit Mörsergranaten bewirft. Aber inzwischen hat er selber diesen Opferblick, den zuckenden Schädel, der ängstlich hin und her pendelt, damit den Augen keine verdächtige Bewegung entgeht.
Eine Freundin hat er gefunden, Rubina, eine hübsche 19-Jährige aus dem behüteten Stadtteil Charlottenburg, aber auch sie macht sich jetzt Sorgen um ihn. Immer schaut er sich auf der Straße um, ständig dieses Misstrauen. Als Rubina vor einigen Wochen ihre Führerscheinprüfung bestand, ließ er sie seinen Wagen sofort über die Autobahn steuern. Es war das erste Mal, dass sie nicht durch die Beifahrertür einstieg, auf die ihr Freund zwei große Pflaster geklebt hat, damit der Regen nicht in die beiden Einschusslöcher rinnt, die an jenen Abend im Januar erinnern, als in Berlin-Neukölln auf den Rapper Massiv geschossen wurde. Die meisten Kugeln verfehlten ihn, aber sein rechter Oberarm wurde durchbohrt. Wer es auf ihn abgesehen hatte, fand die Polizei nicht heraus.
Er sagt, er gehe kaum noch allein vor die Tür, er verkrieche sich daheim
Angenommen, es stimmt, dass die Schüsse auf Wasiem Taha nicht inszeniert wurden, um seine Platten besser zu verkaufen, dann war das der schmerzhafte Punkt, an dem sich die Wirklichkeiten kreuzten. Es war der Moment, als die Wirklichkeit der Illusionisten eine überraschende Rückkopplung mit der Wirklichkeit auf der Straße erlebte. Es gibt offenbar Leute, die auf Märchen hereinfallen und zur Waffe greifen. Seither, sagt Massiv, gehe er nur noch morgens und mittags allein vor die Tür und verkrieche sich in der Dunkelheit meist zu Hause. Übernachtet er in einem Hotel, sitzen die Freunde aus seinem Clan in der Lobby und passen auf. »Ich ziehe Stressmacher an wie ein Magnet, egal, wo ich bin«, sagt Wasiem Taha, genannt Massiv.
Den 10000 Leuten, die sich auf seiner Internetplattform angemeldet haben, verschweigt er, dass er nach Hamburg-Eimsbüttel gefahren ist, wo er in einem Hinterhof der kleinen Wohnstraße Jaguarstieg ein neues Video aufnimmt. Bloß keine Stressmacher, die plötzlich in der Tür stehen, sich als Fans ausgeben und auf ihn losgehen. Wasiem Taha wendet sich den Scheinwerfern zu, er muss sich konzentrieren. Bis heute Nacht um drei wird er an seinem neuen Video arbeiten, hundert Mal wird er in seinen Songs fette Liebeskugeln in Ärsche schieben und rappen: »Wir sind kulturell die unterste Schicht, wir bringen das Ghetto ans Licht.« Und er weiß, wie anstrengend es ist, die inneren Verletzungen eines verdorbenen Lebens sekundengenau in sein Gesicht zu zwingen.
Rapper Massiv und der Weltkonzern Sony, sie sind nun ein Paar
Der Musikkonzern Sony BMG, einer der größten weltweit, wird auch dieses Video bezahlen, das wegen der 3-D-Effekte besonders teuer ist. Massiv und Sony, sie sind jetzt ein Paar. Er ist der einzige deutsche Gangsta-Rapper, den die Firma aus München engagiert hat, das Killergesicht auf den Posterwänden in Jugendzimmern. In seiner Heimatstadt Pirmasens schmiss er die Schule, brach eine Lehre ab, saß nach Drogendelikten im Jugendarrest. Nichts wollte ihm gelingen, dann sprang sein Ghettolied auf MP3-Playern von Kind zu Kind, und alles gelang. Er fährt jetzt eine königsblaue BMW-Limousine mit verchromten Felgen, und wenn er vor einem Schulhof hält, bedrängen ihn die Jugendlichen mit aufgeklappten Handys.
In einer Pause zwischen den Dreharbeiten stellt sein Freund Ashraf den rechten Arm senkrecht auf die Platte eines Tisches und sagt zu dem bulligen Bruder des Videoregisseurs: »Komm, versuch mal.« Ashraf gewinnt das Armdrücken, geht zum Fenster, öffnet es und schaut hinaus. Da drüben in den Reihenhäuschen, auf deren Terrassen Kinderfahrräder zusammengebunden sind, da wohnen vielleicht die allergrößten Fans des Ghettoliedes, wer weiß. Ashraf hat die Daten der Benutzer auf Massivs Internetforum durchgesehen. »Am Anfang waren das nur Ausländer, die ihn gut fanden, Hauptschüler. Jetzt haben wir auch Gymnasiumsleute und Studenten.«
Würde er auch seinen eigenen Kindern, wenn er denn mal welche hätte, Massivs Lieder vorspielen? »Auf keinen Fall«, antwortet Ashraf, »das ist nichts für jeden. Aber hör zu: Das ist Musik. Wer sich das runterlädt, der macht das eben. Es gibt Leute, die sagen: Ihr verherrlicht Gewalt. Aber ich sage dir: Wir haben in diesem Land Scheiße gesehen und in der Scheiße gelebt. Wir haben hier keine Verantwortung. Wir haben keine, null.«
Die Frage nach der Verantwortung. Jugendschützer stellen sie, Eltern quälen sich damit, Lehrer, Sozialwissenschaftler. Führt mehr Rap zu mehr Gewalt? Der Musiksender MTV, der Jugendliche mit den Melodien und Bildern ihres Lebens versorgt, zeigt Massivs Videoclips nicht, zu viel Gewalt. Aber Bushido wird gesendet, der Plattenkönig der Rapper, der sich von seinen Millionen eine Villa am Berliner Stadtrand gekauft hat. Bushidos Texte sind keine Spur harmloser. Da werden Huren kaltgemacht und Schwule geopfert, Politiker gedemütigt und Mädchen gequält. In der Zeitschrift Bravo HipHop Special, die wegen ihres großen Erfolgs inzwischen jeden Monat erscheint, präsentieren sich Musiker, die King Orgasmus One heißen, Kool Savas oder Frauenarzt. Die Bremer Rapperin Lady Bitch Ray wirbt auf ihren blütenweißen Tangas dafür, dass man in sie eindringen soll. Keine Musikrichtung ist bei den 10- bis 16-Jährigen beliebter als der Rap, besonders bei den Jungs.
Finden Teenager bei den Rappern die letzten Tabus, die sie noch brechen können? Warum regen sich Eltern so auf? Weil die rotzfrechen Besucher in den Zimmern ihrer Kinder auf Deutsch singen und man jetzt alles versteht? Oder weil man die Folgen fürchten muss?
Vor anderthalb Jahren kündigte ein 20-jähriger Tunesier aus München seinem Idol, dem Rap-Musiker Bushido, per E-Mail einen Amoklauf an. Die alarmierte Polizei fand in der Wohnung des Tunesiers einen Laptop mit Videos, die Enthauptungen infolge des Irakkrieges zeigten. Er wurde zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. In Biel in der Schweiz warfen Besucher eines Massiv-Konzerts im vergangenen Jahr mit Steinen, in Duisburg prügelten sie den Musiker von der Bühne. Er tritt jetzt nur noch selten live auf, weil keine Konzertagentur einen Reisebus voller Securityleute anheuern will. Im vergangenen November drangen vermummte Täter mit Messern beim Sender MTV in Berlin ein und versuchten, den Rapper Fler niederzustechen. Er konnte sich vor den Angreifern retten. Eine neue Dimension der Jugendgewalt?
Vor der Waldbühne in Berlin durchbrachen Jugendliche die Sperren und prügelten sich mit Polizisten. »I can’t get no satisfaction!«, hatte die Rockgruppe von der Bühne aus in die entfesselte Menge geschrien. 87 Menschen wurden in einer einzigen Nacht verletzt, unter ihnen 27 Polizisten. Das war im September 1965, auf einem Konzert der Rolling Stones. Fing mit ihnen die Verrohung der Jugendkultur an, oder war das damals noch Kunst? Zählt das nicht, weil die Gewalt nicht so beängstigend deutlich aus den Texten gellte?
Man kann Deutschlands Jugendforscher befragen und ist danach keinen Schritt weiter. Ein paar Interviewreihen mit Jugendlichen aus der Hip-Hop-Szene gibt es, aber keine größere empirische Untersuchung über deutschen Rap und Gewalt. Am Ende sitzt da immer ein Forscher, der sagt: Sorry, so genau kann das niemand wissen. »Diese Jungs machen auf dicke Hose, wollen aber nur spielen. Das Beste, was ihnen passieren kann, ist, dass sich jemand aufregt«, wiegelt der Dortmunder Soziologe Ronald Hitzler ab, der sich über Jahre in der Jugendszene umgeschaut hat. »Das Ganze ist ein Zeichen für Verrohung«, meint hingegen der Jugendforscher Klaus Hurrelmann. Immer mehr Teenager machten Erfahrungen mit Gewalt. Ausgerechnet sie stachele der Rap besonders an.
Unter der Bomberjacke wölben sich 120 Kilo, der Oberkörper ist tätowiert
Ihr Dilemma, sagen die Forscher, beginne damit, dass erwachsene Fragensteller mit Teenagern kaum vernünftige Interviews über deren Gefühle und Gedanken führen könnten. Und jeder Wissenschaftler schlägt sich mit der Einsicht herum, dass Musik niemals allein ein Leben bestimmen kann. Viele Dinge kommen dazu – Milieu, Freundeskreis, Schule, Internet, Fernsehen, Vorbilder, Rollenerwartungen der Kumpel, die eigene Charakterstärke. Greift ein Fan zur Waffe, weil Massiv enthemmte Lieder singt, oder bietet sich ein Massiv-Auftritt nur als Forum für Gewalt an, die schon tief in der Seele nistet? Christoph Liell, der in Erfurt seine Diplomarbeit über Gewalt und Musik schrieb, meint, dass auch harte Musik »keine direkte Verbindung zu Gewalt hat«. Und indirekt? Tja, ein Verstärker der Gewaltbereitschaft könne der Rap schon sein. Klaus Farin, Leiter des Archivs der Jugendkulturen in Berlin, sagt: »Gefährdet ist nur derjenige, der sich gefährden lassen will.«
Joe Rilla ist ein wenig angespannt an diesem Morgen. Er schaut sich immer wieder um, als würde er verfolgt, gerade hat ihn ein älterer Herr im Vorübergehen »Wichser« genannt. Rilla steht auf der Oberbaumbrücke in Berlin, hinter ihm parkt sein alter schwarzer Mercedes, auf der Motorhaube leuchtet sein Logo: eine Glatze mit zwei gekreuzten Baseballschlägern darunter. Er ist zwar noch im Ostteil der Stadt, aber er fühlt sich nicht sicher. Das ist nicht mehr seine Gegend. Alles, was außerhalb von Marzahn, Hellersdorf, Hohenschönhausen, den großen Neubaugebieten, liegt, ist potenzielles Feindesland. Hier könnte er nicht innerhalb weniger Minuten ein »Back-up« organisieren, ein paar Jungs zu seiner Verteidigung zusammentelefonieren.
Joe Rilla ist 33, heißt eigentlich Hagen Stoll, hat sich den Schädel kahl rasiert, unter seiner Bomberjacke wölben sich 120 Kilo. Sein Oberkörper ist tätowiert, vor Kurzem sind noch ein paar Plattenbauten auf dem linken Oberarm hinzugekommen. Er sieht aus, wie man sich einen ostdeutschen Nazi vorstellt. Im schicken Berlin-Mitte kann er kaum ein Restaurant betreten, ohne dass die Kellner fliehen. Seit seiner CD Auferstanden aus Ruinen und seitdem seine Glatze in Zeitungen zu sehen war, bekommt er Morddrohungen per Mail und Telefon, von Linken und Rechten. Beide Seiten scheinen nicht ganz sicher zu sein, wo er einzuordnen ist.
Der ältere Herr ist inzwischen weitergegangen, bleibt aber kurz auf der Brücke stehen und zieht sich Handschuhe an. Tyron, Rillas Bodyguard, behält ihn fest im Blick. »Er passt ein bisschen auf mich auf«, sagt Rilla. Tyron ist noch ein wenig breiter als Joe. Früher hat er als Privatdetektiv Banden gejagt. Jetzt wohnt er bei Joe.
Von der Brücke aus kann Joe Rilla in der Ferne das MTV-Gebäude sehen. Er war noch nie dort, seine Musik läuft nicht auf MTV. In seinem Video Der Osten rollt singt Rilla vor Trabis und grauen Plattenbauten von prügelnden Hooligans: »In meiner Gegend feiern Hools, wenn sie Rapper von der Bühne schlagen.« Im Hintergrund zerdrischt ein Mann mit dem Kopf Betonplatten. Das ist das Video, das MTV nicht zeigen mag. Der Programmchef meint, Rilla fische am rechten Rand. 18 Lieder Osten, Platte, Wut über harte Beats.
»Für mich sind Plattenbau und Trabi meine Realität – das Klischee im Klischee. Ich kann mich nicht mit Perücke vor die Platte stellen«, sagt Joe Rilla. Die Bomberjacke hat er vor Jahren übergezogen, als er noch Graffitisprayer war, um die Polizei zu täuschen. Sie war seine Tarnung. Nun ist sie Ausrufezeichen und Provokation zugleich. Platte, Glatze und Bomberjacke – das sind die Bilder, mit denen er auffällt; die Bilder, bei denen die Entscheider in den Sendern aufhören, auf die Texte zu achten. »Sie kennen uns nicht. Sie wissen nicht, wer wir sind«, rappt Rilla. »Ich bin das Sprachrohr des Ostens«, sagt er und grinst.
Viele CDs des Labels Aggro Berlin stehen auf dem Index
Nachdem bisher vor allem Migrantenkinder den deutschen Gangsta-Hip-Hop beherrschen, ist Joe Rilla, der vermeintliche Nazi-Rapper aus Marzahn, die neueste Entdeckung der Szene. »Wenn man aus dem Osten kommt, ist es schwierig, sich mit Bushido zu identifizieren. Dieses Messer-und-Bruder-Ding kann ich nicht nachvollziehen. Ich mache keine Musik, um gehasst zu werden. Ich bin authentisch«, sagt er. Letztendlich wetteifern sie alle darum, wer den härteren Existenzkampf führt, wessen Viertel das schlimmste ist, wer noch weiter am Rand der Gesellschaft steht. Sie wetteifern auch um die Gunst der bürgerlichen Kinder, die sich gern gruseln. Es ist ein Kampf der Realitäten in einem Geschäft, in dem es um die Wirklichkeit geht: Wann ist man noch authentisch, wann schon ein Produkt?
Joe und Tyron setzen sich ins Auto, der ältere Herr ist weg. Sie schwärmen vom vergangenen Wochenende. In einem Dresdner Striplokal feierten sie Tyrons 30. Geburtstag. »Die Jungs haben sich benommen, gab nur ’ne kleine Keilerei«, sagt Tyron. Die beiden sind auf dem Weg zu Rillas Plattenfirma Aggro Berlin, dem bekanntesten deutschen Hip-Hop-Label. Rilla will den Chefs sein neues Album vorspielen. Bei Aggro sind auch Sido, Fler und B-Tight. Auf der Liste der indizierten Rap-CDs der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien stehen viele Aggro-Produktionen. Einem der Aggro-Chefs hat Rilla einmal seine Gegend Marzahn gezeigt. Sanierte Plattenbauten, so weit das Auge reicht. Der Plattenchef war verwundert: Alles schien so ordentlich, so sauber. Von außen.
An einem sonnigen Vormittag hält Joe Rilla vor seiner alten Schule, früher die 5. Polytechnische Oberschule Wolfgang Langhoff, benannt nach einem Antifaschisten. Sie heißt jetzt »Unter dem Regenbogen« und ist eine Grundschule. Joe zeigt auf ein Haus gegenüber, den »Akaziengrund«, Anfang der Neunziger war das der Nazitreff der Gegend. Vor dem Club sei damals ein Vietnamese abgestochen worden, sagt er. Kurz nach dem Mauerfall war Marzahn eine polizeifreie Zone. Die NPD organisierte Fackelumzüge und Aufmärsche, und Joe sah zu, wie seine alten Schulfreunde sich Reichsadler auf die Stirn tätowierten. Die Kinder des Ostens waren auf der Suche nach einem neuen Glauben. Und Rilla hatte ein Problem: Er stand auf der falschen Seite. Er war der, der Hip-Hop hörte – »Negermusik«.
Er führte ein Leben auf der Flucht. Einmal schlugen Skinheads ihn mit einem Baseballschläger von der Parkbank, ein anderes Mal lag er auf der Straße, und sie traten ihn in den Bauch. Sein Bezirk schien sich in einen undurchdringlichen Dschungel zu verwandeln. Und Hagen Stoll nannte sich Joe Rilla, das klang wie Gorilla.
Nach dem Jahr im Gefängnis begann Rilla ernsthaft zu rappen
Er war 14, als die Mauer fiel, sein Land löste sich vor seinen Augen auf. Seine Eltern trennten sich. Der Vater hatte beim Zoll an der Berliner Mauer gearbeitet, das neue System blieb ihm fremd. »Ich wollte Luxus«, sagt Rilla. Er schloss sich einer Bande an, sie überfielen Läden, er fuhr Sportwagen und schlug sich beim BFC Dynamo nach den Spielen in der dritten Halbzeit. Und einmal raubte er die Kasse einer Tankstelle, auf der Flucht hätte er beinahe die Kassiererin überfahren. Er wurde gefasst, bekam ein Jahr wegen Raubüberfalls und versuchten Totschlags. »In der Haft wurde ein Schalter umgelegt«, sagt Joe Rilla. Er redet nicht gern darüber. Nach dem Gefängnis begann er ernsthaft zu rappen. Ein Musikverlag nahm ihn unter Vertrag, Rilla schrieb die Melodie für eine McDonald’s-Kampagne. Bis heute verdient er hauptsächlich mit Beats, die er komponiert und an andere verkauft.
Die Fahrt endet am Eastgate, einem von Berlins größten Einkaufszentren im Schatten der Hochhäuser. Es ist Mittag, und es haben schon ziemlich viele Menschen viel Zeit. Joe Rilla erzählt von Kindern, die Eisspray aus der Apotheke inhalieren, damit ihre Luftröhre vereist für den ultimativen Kick; von Arbeitsämtern, die abgerissen werden, und von den Russlanddeutschen, die Marzahn nun beherrschen. Rilla hat ein Stuhlbein unterm Autositz, für den Notfall. Sein Handy klingelt, sein Produzent ist dran: »Der Scheißkurier steht vor deiner verkackten Tür mit der verkackten CD! Fick die Henne!«, brüllt Rilla in den Hörer. Nachdem er aufgelegt hat, redet er normal weiter. Er hat den Sprachwechsel gar nicht bemerkt.
Vor zwei Jahren hat Joe Rilla seine Gegend verlassen, er lebt jetzt außerhalb Berlins in einem Einfamilienhaus. Es störte ihn, dass die Kindergärtnerinnen seiner Tochter nie lächelten. Er sagt, er schlafe nun auch viel besser als früher im Plattenbau, wo er jeden Streit der Nachbarn verfolgen konnte. Als ProSieben einen Beitrag über ihn drehen wollte, sagten die Redakteure ab, als sie hörten, dass er umgezogen war und auch kein Rechtsradikaler sei. Das Bravo HipHop Special fotografierte ihn in der Wohnung eines Freundes und behauptete, er wohne noch im Plattenbau. Joe Rilla, der Hooligan-Ost-Rapper, im Familienhaus mit abgezogenen Holzfußböden und mit Schwiegereltern im Arm hätte nicht gut ausgesehen. »Viele hätten gern, dass ich der Nazi bin«, sagt er.
Auf dem Tisch in Joes Plattenfirma Aggro stehen Flaschen mit italienischem Mineralwasser, die Vorhänge haben Tarnfarben. Die drei Gründer des Labels: Spaiche, ein Ostdeutscher und früher ein bekannter Breakdancer, Halil, ein Deutschtürke aus Kreuzberg, und Specter, ein gebürtiger Franzose und ehemaliger Graffitisprayer, warten. Dem Label wird oft nachgesagt, dass es seine Künstler zu Klischees aufbaue: Aus Sido wurde der Mann mit der Maske; aus Fler der deutschtümelnde Rapper aus dem Westghetto; aus B-Tight der frauenverschlingende »Neger«. Und nun füllen sie mit Joe Rilla eine letzte Nische: den Osten. Zugleich werden die Aggro-Chefs für ihr »zugespitztes Marketing« bewundert. »Wenn die Künstler das nicht in sich hätten, könnten wir das auch nicht erfinden. Wir können nur etwas verstärken«, sagt Specter.
Rillas erstes neues Lied handelt von einem afrikanischen Flüchtling, der nach Deutschland kommt, weil er »neue Beine haben will«. Im nächsten geht es um Thommy aus Leipzig, der Flaschen sammelt, um zu überleben; es folgt ein Song über eine krebskranke Mutter. Am Schluss sagt Joe Rilla, das sei jetzt alles etwas kommerzieller. »Ich wollte nicht immer nur Rilla sein, der draufhaut. Ich bin auch der Daddy.« Spaiche widerspricht: »Ich weiß nicht, ob das kommerziell ist.« Halil ist unsicher: »Ich feiere eher, wenn du auf die Fresse haust.« Specter zieht an seinem Joint, dann sagt er: »Die Nummer mit dem Afrikaner musst du umdrehen. Erzähl von einem Ossi, der hier nichts mehr zu fressen hat. Dann wird das was Neues, Mann.«
Rilla hat noch ein paar härtere Sachen dabei, Marzahner Berserker und Deutsch-Rap-Hooligan: »Ja, wir sind gewaltbereit. Bei mir bist du ein krasser Kunde, wenn du ein paar Namen nennst.« Halil: »Das muss aufs Album!« Und Rilla zeigt noch ein Video, zu Heavy-Metal-Klängen singt er: »Friss meinen Schmerz.« Spaiche ist begeistert. Das sei was Neues, allerdings werde MTV auch das nie spielen. »Hast du noch mehr davon?«, fragt Specter. Joe nickt. Gemeinsam überlegen sie, wann und wie sie das neue Album herausbringen sollen. Konzerte wird es kaum geben. »Joe Rilla zu verbooken ist fast unmöglich. Irgendwo sitzt immer ein gescheiterter Alt-68er, der die Jugend schützen will«, sagt Spaiche.
Der Musikmanager – verheiratet, Kinder – hält Massiv für vertretbar
Im Nebenzimmer zeigt Specter auf seinem Computer ein neues Video aus Frankreich. Mehrere Araber stehen vor einem französischen Plattenbau, sie tanzen mit riesigen MGs, jemand wird zusammengeschlagen und angezündet. Alles ist auf die Spitze getrieben, ein einziger riesiger Witz. Oder nicht?
»Wer das ernst nimmt, ist selbst schuld«, sagt Specter. Er findet, die Jugendlichen würden krass unterschätzt. »Kunst ist unantastbar.« Gibt es eine Grenze? Doch, die Rapperin Lady Bitch Ray habe Aggro nicht unter Vertrag genommen. »Sie wäre beim ersten Konzert erschossen worden.« Möse und Allah in einer Zeile vereint, da hätte es sein können, dass ein muslimischer Familienvater ausrastet. Das habe Aggro nicht verantworten wollen. Der Musikkonzern Universal hat sich nun ein wenig »Street-Credibility« gekauft und arbeitet mit Aggro zusammen. Hat Aggro damit seine Glaubwürdigkeit verloren? Das Musikgeschäft sei längst tot, meint Specter. »Da musst du mit dem Rudel dickster Geier unterwegs sein, sonst kriegst du nichts mehr ab.«
Joe Rilla fährt mit Tyron in seinem Mercedes wieder in Richtung Osten. Tyron erzählt von Mädchen mit Silikonbrüsten. Joe telefoniert mit seiner Frau. Ihre gemeinsame Tochter ist drei und wünscht sich als Schlaflied immer Der Osten rollt von ihrem Vater. Den Refrain singt sie schon mit: »Sie nennen mich Rilla, Junge, des Ostens Stolz. Ich bring den Osten hiermit zurück auf die Karte. Der Osten rollt, Junge. Hörst du, was ich sage?« Die Zeilen über die Hooligans kann sie noch nicht.
Vor ein paar Wochen hielt der Filmwissenschaftler Stefan Linz einen kleinen Vortrag bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen in Berlin, einem Verein der Fernsehindustrie, der die Programme auf jugendgefährdende Inhalte hin prüft. Um die »Sprache als Risiko« ging es dem Redner Linz, »die Sprache in deutschen Hip-Hop-Videoclips«. 30 Zuhörer hatte er erwartet, aber es kamen mehr als 100. Erstaunlich, dachte er, wie viele Erwachsene sich für dieses Thema interessieren.
Erstaunlich ist auch, wie ratlos die Experten sind, sobald man von ihnen wissen möchte, warum der deutsche Rap bei Jugendlichen so beliebt ist. Rebelliert da die deutsche Unterschicht? Brüllt das Prekariat? Politiker, Verbandsfunktionäre und Jugendschützer sind über die Songtexte von Rappern sehr besorgt; aber wenn man von ihnen erfahren will, wo gesellschaftliche Ursachen liegen, bleibt ein verlegenes Schweigen.
Statt auf die Rap-Musiker einzuschlagen, müsse man fragen: »Warum ist Sexismus wieder angesagt in dieser Gesellschaft?« Klaus Farin vom Archiv der Jugendkulturen in Berlin hält die Rapper für Seismografen einer sozialen Erschütterung. Es sei dumm, den Seismografen zu zertrümmern. »Jugendliche drücken radikaler aus, was sie in der Erwachsenenwelt gelernt haben. Auch die Anbieter und Vermarkter von Gangsta-Rap sind keine Jugendlichen.«
Philip Ginthör ist zwar erst 32 Jahre alt, er trägt auch noch seine modische Fransenfrisur, aber er fühlt sich von den Teenagern, für die er immer neue Lockmittel erfinden muss, weiter entfernt als von so manchen 50-Jährigen. Es ist die Routine in einem ernsthaften Geschäft, die einem schnell das Kreischen abgewöhnt. Ginthör war früher Assistent des BMG-Chefs Rolf Schmidt-Holtz und wohnte in New York, jetzt leitet er bei Sony BMG in München eigenständig das Plattenlabel Columbia. Er hat es mit Leuten zu tun, die am Ende eines Tages Verkaufszahlen von Bildschirmen ablesen, nicht mit Träumern.
Als Ginthör die Nachricht von dem sagenhaften Ghettojungen erreichte, warnten ihn Kollegen aus der Branche: »Wenn du dich mit dem triffst, dann pass auf, dass sie dich nicht abstechen.« Philip Ginthör lachte, stieg in München in ein Flugzeug und traf sich in Berlin gleich mit diesem jungen Wilden, den er für seine Show engagieren wollte, in der schon TicTacToe und Wolfgang Petry aufgetreten sind, aber noch keiner aus der Unterwelt. »Massiv, allein dieser Körper«, dachte Ginthör, »er ist so unglaublich credible.« Das sei »der Krasseste von allen«, hatte Ginthör sich sagen lassen und handelte mit Massiv einen Vertrag aus, der in der Branche als »übertrieben fett« gilt, fast 100000 Euro.
Philip Ginthör ist ein lässiger, umgänglicher Typ. Mit seiner Frau und seinen kleinen Kindern lebt er am Rande von München. Er kann sich gewählt ausdrücken, nur auf eine Frage fällt ihm spontan nichts ein: Würden Sie Ihren Kindern eine CD von Massiv unter den Weihnachtsbaum legen? Die Frage macht ihn hilflos und stumm.
Philip Ginthör fing einmal eine Doktorarbeit an, beschäftigte sich mit Rousseau und den unveräußerlichen Menschenrechten, belässt es heute aber meist bei Onlinenachrichten und der Bild-Zeitung. Seit Ginthör denken kann, geht es abwärts mit der Musikindustrie, die immer weniger CDs verkauft, weil sich die Leute ihre Songs illegal im Internet herunterladen.
Der Senior Vice President fragte Ginthör, ob er die Texte dieses Rappers gelesen habe. »Ich halte sie für vertretbar«, antwortete Ginthör und verlangte von Massiv, dass er ihm jetzt immer alle Verse zeigt, aber nie hat der junge Sony-Manager daran etwas auszusetzen. »Ich liebe den Mythos eines Stars«, sagt er, »auch das ist es, was wir verkaufen. Das ist es, was die Leute wollen.« Massiv hat von seinem neuen Album 15000 Scheiben verkauft, nicht sensationell, nicht katastrophal. Sein Partner Sony BMG ist Teil des Weltreiches Bertelsmann, und so gibt es jetzt eine geschäftliche Verbindung zwischen der Konzernherrin Liz Mohn in Gütersloh und einem tätowierten Rapper in Berlin-Wedding.
Für seine Mutter wird Wasiem niemals Massiv heißen
Auf die Probe gestellt wurde die Beziehung, als Massiv vor drei Monaten angeschossen wurde und sein Manager Ginthör fürchten musste, der Junge werde ausrasten, auf Rache sinnen und den sauberen Konzern in einen Bandenkrieg ziehen. »Bleib ja ruhig«, riet ihm Ginthör, »konzentrier dich auf die Musik.«
Nach einer langen Nacht, in der Massiv einen neuen Rap in seine schwarze Kladde geschrieben hat, bringt seine Mutter ihm Tee. Sie hat sich ein schwarzes Kopftuch umgebunden, wie immer. Wenn sie ihn liebevoll von der Seite anschaut, dann verrät ihr Blick etwas von den Sorgen und Zweifeln, über die sie nur zögerlich spricht. Mein Wasiem, wird alles gut enden? Das erste Mal verdient er jetzt auf legale Weise Geld, das die ganze Familie ernährt. Die Mutter schneidet jeden Zeitungsartikel über ihn aus. Seinen Vater fährt er morgens zu dem Altenheim, wo er Hausmeister ist. Sein Vater, sagt der Junge stolz, war in 24 Berufsjahren nur einmal krank.
In diese Wohnung, vier Zimmer im vierten Stock eines Hochhauses, hat er die Familie geführt, er, Wasiem, der für die Mutter niemals Massiv heißen wird. Bei seinen Eltern gebettelt hat er, damit sie ihn begleiteten, als er vor zwei Jahren aus der Pfalz in die Hauptstadt der deutschen Rapper zog. Oft hat die Mutter sich über seine schamlosen Lieder geärgert, über die nackte Brust einer Frau in seinen Videos. »Das ist Kunst, Mama«, hat er trotzig gesagt, aber sie wollte davon nichts wissen.
Seine Lehrerin erinnert sich gern an Wasiem, den freundlichen Schüler
Er schrieb einen Rap allein für sie, den er Mama nannte. »Ich bitte dich um Vergebung«, singt er. Noch immer liegt das rote Herzkissen auf dem Sofa in Wasiem Tahas Zimmer, der zottelige Teddybär, die Liebesbeweise aus seiner Kindheit, von der er erzählt, dass sie im Ghetto erstickt worden sei. »Er war ein lieber, schüchterner Junge«, sagt seine frühere Grundschullehrerin aus Pirmasens, wenn man sie nach ihm fragt. Beim Laternenumzug habe er sich von der Hand der Mutter erst lösen können, als ihm die Lehrerin ihre Hand angeboten habe. »Nein, er hat mich nie angegriffen. Das muss er geträumt haben«, sagt sein früherer Hauptschuldirektor. In seinen zweieinhalb Jahren an der Berufsschule, sagt die Leiterin, wurde er nur wenige Male ins Klassenbuch eingetragen, meist wegen Unpünktlichkeit. Der Stadtteil Horeb, wo er aufwuchs, ist eine Gegend der einfachen, braven Leute, ein Viertel der Handwerker und Ladenbesitzer, er ist vieles, bloß kein Ghetto.
Wasiem Taha hat seine Kindheit künstlich verfinstert, damit sein Ghettolied glaubwürdiger klingt, damit er sich in der schrillen Berliner Musikszene als Provinzjunge behaupten kann und damit er Sony nicht enttäuscht. »Wie er diesen gequälten Ton in seine Stimme holt: faszinierend«, findet sein Sony-Manager.
Lernt man die Leute kennen, die ihn als authentisch preisen, all die Talentspäher, Betreiber von Internetplattformen, Programmchefs von Musikkanälen, all die Impresarios der Unterschichten-Nummer, dann staunt man, wie viel gutbürgerliche Doppelmoral da zusammenkommt: wie viele 40-jährige Männer, die ihre Wohlstandsbäuchlein unter Schlabberhemden verstecken und sich bei Massiv in einem rücksichtsvollen Flüsterton nach dem Heilungsprozess im Oberarm erkundigen, wie viele gebildete Leute, die frühmorgens mit ihren getrimmten Hunden durch den Wald joggen, bevor sie sich von Ghetto-Beats in Stimmung bringen lassen, wie viele mitteilungsfreudige Menschen, die ihren grau gewordenen Eltern nicht mehr erklären können, womit sie ihr Geld verdienen. Machst du dein Geschäft etwa mit Gewalt?Lernt man die Leute kennen, die ihn als authentisch preisen, all die Talentspäher, Betreiber von Internetplattformen, Programmchefs von Musikkanälen, all die Impresarios der Unterschichten-Nummer, dann staunt man, wie viel gutbürgerliche Doppelmoral da zusammenkommt: wie viele 40-jährige Männer, die ihre Wohlstandsbäuchlein unter Schlabberhemden verstecken und sich bei Massiv in einem rücksichtsvollen Flüsterton nach dem Heilungsprozess im Oberarm erkundigen, wie viele gebildete Leute, die frühmorgens mit ihren getrimmten Hunden durch den Wald joggen, bevor sie sich von Ghetto-Beats in Stimmung bringen lassen, wie viele mitteilungsfreudige Menschen, die ihren grau gewordenen Eltern nicht mehr erklären können, womit sie ihr Geld verdienen. Machst du dein Geschäft etwa mit Gewalt?
Man könnte die Schüsse auf Wasiem Taha als extremen Sonderfall abhaken, wenn nicht ständig diese Nachrichten auf seinem PC einträfen, bis zu hundert am Tag. »Scheiß auf deine Haters«, schreiben ihm Jugendliche, und weil es so viele geworden seien, sagt er, antworte er ihnen nicht mehr. An dieser Kunstfigur haben so viele Leute mitgewirkt, dass Wasiem Taha erschrickt, wenn ihn die E-Mails an seine Urheberschaft erinnern. »Alles Verrückte«, sagt er nur. Die Verrückten schreiben ihm:
»Willst du beim Kampf von meinem Bruder live dabei sein?« – »Wenn wir Moslems jetzt nicht zusammenhalten, wann dann?« – »Habe vor 8 Wochen Bullen zusammengeschlagen.«
Aber Wasiem Taha will nicht verantwortlich sein für die Lawine, die Massiv losgetreten hat. Da ist sie wieder, die Verantwortung, die jeder im Rap-Gewerbe so weit von sich wegschiebt, dass er nichts mehr davon spürt. Wenn da draußen tatsächlich ein Polizist verprügelt würde, könnte niemand Massiv bezichtigen. Die Rap-Musik hat einen unauffälligen Jungen zum Schläger werden lassen? Wer diesen Beweis führen wollte, würde sich lächerlich machen. Deswegen haben es die Männer mit den Ghettoliedern so einfach, ihrer Verantwortung für die Kinder in den echten Ghettos zu entkommen.
Das Durchschnittsalter der Bundesjugendschützer liegt bei 50
600 Kilometer von Berlin entfernt, weit weg von den trostlosen Bezirken Wedding und Marzahn, sitzen in einem aufgeräumten Bürogebäude in Bonn diejenigen, die Jugendliche vor der gefährlichen Musik schützen sollen, die Wächter von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien. An diesem Tag werden die Damen und Herren des »12er-Gremiums«, wie es amtsintern heißt, über die CD des Aggro-Künstlers B-Tight entscheiden. Meist beschäftigen sie sich mit Nazibands, aber seit 2003 auch immer mehr mit Musik aus dem »Themenbereich Hip-Hop«. Seitdem nicht nur Jugendbehörden, sondern verschiedene Ämter Anträge stellen dürfen, gibt es immer mehr Indizierungsverfahren. Es scheint eine gewisse Sehnsucht nach Regeln zu geben, nach einer höheren Instanz, die Grenzen setzt. Wenn eine CD indiziert wird, verschwindet sie unter dem Ladentisch, außerdem darf nicht für sie geworben werden. Deshalb kommen die Jugendschützer oft in den Texten der Rapper vor, sie werden beleidigt.
Im Konferenzraum der Prüfstelle tagen zwölf Frauen und Männer, das Durchschnittsalter liegt bei 50. Es sind Vertreter der Länder, von Jugendbehörden, der Kirche und der Kultur. Neonlicht strahlt ihnen auf die Köpfe. Peer Bießmann, ein junger Mann im Anzug und Anwalt des Musiklabels Aggro Berlin, bemüht sich gerade, ihnen das Genre Hip-Hop zu erklären: »Ganz wichtig ist die Methodik des Battle-Raps, des Wortkampfes, als Ersatz für tatsächliche Gewalt. B-Tight ist ein Afrodeutscher. Er kommt aus dem Märkischen Viertel, einem problematischen Viertel in Berlin. Seine Mutter war Alkoholikerin. Seinen Vater kennt er nicht. Man muss die Texte also im Gesamtkontext sehen und nicht einzelne problematische Textzeilen sezieren.«
Eine Mitarbeiterin versucht daraufhin, den CD-Player in Gang zu setzen, was ihr erst nach mehreren Versuchen gelingt. Die Leiterin der Behörde, Elke Monssen-Engberding, will den Titel Alles Fotzen außer Mama hören. Es folgt Titel 12: Fick Dich. Einige Gremiumsmitglieder greifen zum Obst auf dem Tisch. Titel 18 ist dann der Höhepunkt: Sex und Gewalt. Wahrscheinlich wurde er speziell für dieses Gremium geschrieben, jeder Rapper weiß, dass die Wächter auf diese Mischung sehr sensibel reagieren. In dem Lied sticht eine Frau einen Mann ab, um sich für all die bösen Männer ihrer Vergangenheit zu rächen. Es endet mit einem langen Schmerzensschrei. Der Vertreter des Saarlandes fragt den Anwalt: »Wie soll ich die Zeile ›Ich knips dein Licht aus‹ verstehen?«
»Das heißt nicht, kauf dir eine Knarre und durchlöchere den Feind. Das ist Metaphorik, um zu erklären, was man mit dem anderem fiktiv machen will«, antwortet Bießmann.
»So kann, so muss man es aber nicht verstehen. Der einfach gestrickte Jugendliche kann das falsch auffassen«, sagt der Vertreter des Saarlandes.
Die Leiterin mischt sich ein: »Es ist immer das Gleiche beim Hip-Hop. Alles ist verbal gemeint, und wir verstehen es meistens falsch.« Bießmann geht nicht darauf ein, er sagt: »Bei dem Titel Fick Dich stößt Ihnen wahrscheinlich das ›Ficken‹ auf. Das ist nicht wörtlich zu verstehen. Es ist keine Aufforderung zum Geschlechtsverkehr.« Der Vertreter des Saarlands widerspricht: »Ficken hat ja schon Zugang zum Duden gefunden und hat mehrere Bedeutungen. Im Antifa-Bereich kann es auch ein Aufruf zur Gewaltanwendung sein.«
Bießmann wird ärgerlich. »Bei der Zeile ›Fick den Bundestag‹ ist doch klar, dass der Künstler dem nicht Gewalt antun will.« Auch die Leiterin Monssen-Engberding hat noch eine Frage: »Bei Titel 22, Ich fackle jeden Penner ab, können Sie mir sagen, für welches Synonym da Penner steht?« »Es ist kein Synonym für Obdachlose. Es ist ein abwertendes Wort für jemanden, der nicht up to date ist. Ich benutze es auch im privaten Gebrauch. Womöglich haben Sie es auch schon mal gesagt?« »Nein! Ich finde es nicht lustig.« »Sie sind nicht die Zielgruppe!«
Anwalt Bießmann raucht vor der Tür, während das Gremium abstimmt. »Meine Eltern verstehen Rap auch nicht«, sagt er. Das Gremium beschließt, mehrere Titel des Albums von B-Tight zu indizieren. Bießmann kann seinen Frust nicht ganz verbergen. »Ich würde mir wirklich wünschen, dass hier auch mal Vertreter der Zielgruppe sitzen.« Monssen-Engberding, die Leiterin, bleibt zurück. Sie ist seit 29 Jahren bei der Prüfstelle. Früher hörte sie hier Beatles und Rolling Stones. »Da gab es keine schrecklichen Texte.«
Es fällt auf, dass die meisten, die über Hip-Hop entscheiden, der 68er-Generation angehören, nun sitzen sie auf den Posten, die sie damals verabscheut hätten. Die Helden ihrer Kinder und Enkel rebellieren jetzt gegen das, wofür sie kämpften: Pazifismus, Multikulti und Emanzipation der Frau.
Der erste Strafprozess gegen Rapper, die detailgenau Folter und Mord beschreiben
m Sommer wird der Kampf um den Schutz der Jugend den Staatsanwalt Thomas Schulz-Spirohn in Berlin erreichen. Er wird den ersten deutschen Gerichtsprozess gegen Rapper führen, gegen die bisher kaum bekannten Musiker Blokkmonsta, Schwarz und Uzi. In ihren Liedern zünden sie die Bundesprüfstelle an, bedrohen die SPD-Politikerin Monika Griefahn mit Tod und Folter, weil sie mehr Kontrolle für harten Hip-Hop forderte, und beschreiben detailgenau die Hinrichtung von Polizisten. Der Staatsanwalt muss in den Akten nachblättern, um aufzuzählen, wie viele Straftatbestände erfüllt werden: »Gewaltverherrlichung, Aufforderung zu Straftaten, Volksverhetzung, öffentliches Androhen von Straftaten, Bedrohung und Beleidigung.« Bis zu fünf Jahre Haft drohen.
Wann wird ein Songtext zum Verbrechen? »Die Kunstfreiheit gilt nicht schrankenlos. Sie können auf der Theaterbühne auch nicht einen echten Mord darstellen und behaupten: Das ist Kunst«, sagt der Staatsanwalt. Je detaillierter Grausamkeiten beschrieben würden, desto schlimmer. Verbote machen die Lieder und die Künstler erst wirklich bekannt, das weiß er. »Aber es bleibt nicht ohne Auswirkung, wenn Jugendliche von früh bis spät hören, wie andere gefoltert werden und brutaler, rücksichtsloser Sex angepriesen wird. Ein Zwölfjähriger versteht die Ironie nicht.«
Der Staatsanwalt ist jetzt 44 und hört zu Hause Hip-Hop, Kanye West und Eminem. Sein 17-jähriger Sohn findet es »superärgerlich«, dass der Vater fast die gleiche Musik mag wie er. Auf seinen Laptop hat der Sohn nun ein Foto von Blokkmonsta als Hintergrundbild geladen. Er lässt demonstrativ die Tür offen stehen, sobald er in seinem Zimmer die Titel laut dreht, die sein Vater anklagt. Wenn sich sein Vater darüber aufregt, ist es ein perfekter Tag.(Quelle:Zeit.de)
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Labels: Attacke aus Kinderzimmer
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