Mittwoch, April 23, 2008

Wikipedia gedruckt - Lasst die Links im Internet!

Wikipedia wird gedruckt. Was nach einem schlechten Scherz unter Online-Nerds klingt, ist eine wahrhaftige Geschäftsidee von Bertelsmann. Abermals versucht ein Medienkonzern Inhalte des Internets in eine Gattung zu pressen, der etwas Entscheidendes fehlt: Links. Die Seiten in einem Buch kann man lesen, vor- und zurückblättern. Das sind aber auch die einzigen Gemeinsamkeiten zwischen Buch- und Webseiten. Geschriebenes im Internet hat einen klaren Vorteil: Es ist der Hypertext, der das Internet zu einem eigenständigen Medium macht. Verlinkte Wörter verweisen auf andere Wörter, der Leser springt von Seite zu Seite.

Die Verlage tun sich schwer damit, das neue Medium als eigenständige Gattung zu akzeptieren. Print und online werden häufig verknüpft, ohne dass die Inhalte dem Medium gemäß angepasst werden. Das gilt in beide Richtungen: Print-Inhalte werden unverändert ins Netz gestellt, Online-Texte wandern in Bücher. Im einen Fall werden die medienspezifischen Auszeichnungsformen ignoriert, im anderen Fall werden sie missachtet. Kein Mensch schafft sich ein TV-Gerät an, um Radio zu hören. Keine Radioanstalt sendet ihre Beiträge im Fernsehen.

„Voller schwelender Kontroversen“

Bertelsmann will „in der komprimierten einbändigen Druckausgabe neue Zielgruppen erschließen, die das Wikipedia-Projekt kennen lernen und an ihm partizipieren.“ Wozu? Mehr als die Hälfte der knapp 500 Millionen EU-Bürger nutzt das Internet, in Deutschland gelten 64 Prozent als regelmäßige Internet-Nutzer. Die meisten von ihnen werden Wikipedia kennen - und vermutlich auch schätzen. Alle Wissbegierigen, die keinen Computer haben, werden die Vorteile einer Online-Enzyklopädie nicht kennen lernen, wenn sie sich das „Wikipedia-Lexikon in einem Band“ kaufen. Zudem müssen sie 19,95 Euro für eine statische Mini-Version dessen ausgeben, was es im Netz kostenlos gibt.
Der amerikanische Schriftsteller Nicholson Baker hat in einem Artikel geschrieben, Wikipedia hätte etwas „Unglaubliches. Diese Internet-Seite ist riesengroß, eigenwillig, vorsichtig, chaotisch, witzig, schockierend, voller schwelender Kontroversen - und dabei kostenlos und schnell. In wenigen Sekunden kann man unter 'Diogenes von Sinope' nachschauen oder unter 'Steckrübe', 'Crazy Eddie', 'Bagoas', 'quadratische Gleichung', 'Bristol Beaufighter' oder 'Sanford B. Dole'. Und dann verfügt man über Kenntnisse, die man vorher nicht hatte. Wikipedia ist wie eine gigantische, aus Luft gebaute Stadt, in der große Mengen von Menschen auf den Bürgersteigen hin und her eilen, die Picknickkörbe mit nahrhaften Snacks tragen.“

Wildes Gelände mit Häusern, Flüssen, Bergen und Straßen

Diese Erfahrung mit Wikipedia kann man auf den spielerischen Umgang mit dem Internet übertragen. Nutzer wollen häufig kein wohl geordnetes, abgeschlossenes, indiziertes Gebäude betreten, sondern ein wildes Gelände mit Häusern, Flüssen, Bergen und Straßen. Wer den gut ausgeschilderten Pfad verlässt, holt sich schnell nasse Füße und verliert Zeit auf dem Weg zum Ziel, weil er einen kahlen Berg erklimmen musste. Doch was soll's? Zappen und Zeit verlieren sind wir vom Fernsehgucken gewohnt. Auch hier ist das nächste Bild nur einen Tastendruck entfernt. Jedoch ist beim Ausprobieren von Wikipedia der Klick auf eine andere Seite häufig ein Erkenntnisgewinn, ohne dass der Nutzer die Erkenntnis vorher gesucht hat.

Klar. Man kann auch in einer gedruckten Enzyklopädie schmökern, von Begriff zu Begriff blättern und Neues entdeckten. Aber ein einbändiges Wikipedia-Lexikon als „lexikalisches Jahrbuch“ mit Einträgen zu 50.000 Stichwörtern ist weder Fisch noch Fleisch. Das Projekt stinkt danach, dass das Online-Phänomen Wikipedia von Bertelsmann für den Printbereich ohne großen Aufwand ausgenutzt wird, um Geld zu machen. Das ist aus wirtschaftlichen Gründen nachvollziehbar.

Imageschaden für die Marke Wikipedia

Doch das Vorhaben könnte einen Imageschaden für die Marke Wikipedia bedeuten. Von „freier Enzyklopädie“ spricht vielleicht demnächst keiner mehr. Die meisten fleißigen Wiki-Schreiberlinge sind Internet-Nerds. Ein Grund für ihre kostenlose publizistische Arbeit war sicherlich die Idee zu unterstützen, online eine Enzyklopädie zu errichten: kostenlos, dynamisch und frei. Der eine oder andere Wikipedianer dürfte sich verraten fühlen.

Außerdem schmeckt das „Jahresbuch“ wahrscheinlich wie ein verwestes Stück Steak, weil es zu lange im Kühlschrank gelegen hat. Im Internet ist das Angebot vielfältig und unbeständig. Da kann man schnell und gut essen. Auch wenn am nächsten Tag wahrscheinlich nicht mehr das Gleiche bekommt. (Quelle:FAZ.de)

Labels:

0 Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Abonnieren Kommentare zum Post [Atom]

<< Startseite